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hatten auch die Vereinigten Staaten, Japan, Frankreich, Portugal, Italien, ja selbst Spanien und Holland, Bewaffnete gelandet. Was Shanghai damals zu erwarten hatte, wenn dieser Schutz nicht gewesen wäre, dafür hat ja Nanking ein unheimliches Beispiel geliefert. Hätten dort die fremden Kriegsschiffe nicht im letzten Moment noch eingreifen können, so wären wohl nicht viele Ausländer mit dem Leben davongekommen. Die Zahl der Opfer ist so noch gross genug. […] Wenn also die Fremden sich vorläufig weigern, ihre Sonderrechte, soweit sie sie noch besitzen, aufzugeben; wenn sie Bürgerwehren halten und wenn nötig die militärische Hilfe ihres Mutterlandes anrufen, um ihr Leben und Eigentum zu schützen, wenn in der Umgebung einer Konzession Zivilkriege wüten und das Einbrechen geschlagener, zügelloser Soldatenhorden befürchtet wird; wenn sie ihre Handelsschiffe durch heimatliche Kriegsschiffe begleiten lassen, damit sie sich wehren können, wenn sie von den Flussufern aus grundlos beschossen werden; wenn sie die Wiederaufhebung des ‹Provisional Court› verlangen und nicht gewillt sind, ad libitum auferlegte Steuern und Zölle zu zahlen, so wird man ihnen das nicht verargen können.»

      Während seiner zahlreichen Reisen auf den grossen Flüssen hatte Meister Gelegenheit, Regierungs- und Revolutionstruppen zu beobachten, die ständig unterwegs waren und gegeneinander kämpften. In ausführlichen Berichten, die er an die Firma Sulzer in Winterthur schickte, hielt er diese Beobachtungen fest. Dabei schreibt Meister, dass er auf einem Dampfschiff gereist sei, das ständig Gefahr lief, auf die scharfen Felsblöcke aufzulaufen, die überall aus dem Wasser ragten. Der Jangtsekiang, von hohen, steilen Felswänden gesäumt, welche die berühmte Schlucht Three Gorges du Yichang formten, bot ein faszinierendes Bild. Dann passierte das Schiff die Stromschnellen «Fo Mien Tan», vor allem im Sommer eine der tückischsten Stellen, wenn das Wasser einen Felsen bedeckte, der sonst bei niedrigem Wasserstand sichtbar war. Ein Buddhakopf, dessen Blick die Schiffe beschützen sollte, war in den Felsen gehauen. Lag er jedoch unter Wasser, verlor er seine Schutzfunktion. Nach überstandenen Gefahren ging die Reise weiter zwischen Landschaften, den reizvollen chinesischen Tuschmalereien gleich, mit ihren terrassenförmigen Abhängen, Bäumen, die aus dem Dunstschleier auftauchten, und kleinen Dörfern voller Leben.

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      Französische Barrikade am Eingang zur Hungjao-Strasse (Hongqiao), Shanghai 1927.

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      Strassenszene mit Soldaten, Shanghai 1927.

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      Strassenszene mit Panzer, Shanghai 1927.

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      Stellung an einer Brücke, Shanghai 1927.

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      Am Jessield-Park (Zhongsham Park), Shanghai 1927.

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      Barrikade an der Jessield-Brücke (Wanhangdu Road), Shanghai 1927.

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      Strassenszene in Shanghai, 1927.

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      Otto Meister nach japanischen Bombenangriffen auf Shanghai 1932 oder 1933.

      Zwei weitere Berichte an die Firma Sulzer, «China an der Arbeit» (1933) und «Leben in China» (1935), vermitteln uns einen Querschnitt durch die chinesische Gesellschaft, besonders durch das Milieu der Bauern und Handwerker, das praktisch alle Familien umfasste, die nicht zu der damals im Niedergang begriffenen politischen oder administrativen Elite gehörten.

      Die ersten bewegten Phasen dieser Revolution, die mit Mao Tse-tung allmählich eine politische Ausrichtung fand und in der Geschichte Chinas eine entscheidende Wende herbeiführen sollte, wurde vom europäischen Beobachter als ein grosses, schreckliches Chaos wahrgenommen, in dem das mehrere Tausend Jahre alte Kaiserreich unterging. Die Ausländer, insbesondere die Europäer, beeilten sich, es mit ihrem Kapital zu verlassen, um die eigenen Investitionen zu retten. In einem Brief von 1927 an seinen Freund Joseph Rock stellte Otto Meister eine Betrachtung an, die nicht nur von grosser Weitsicht, sondern auch von einer tiefen Liebe zum Orient zeugt: «Die Lage in ganz China ist schrecklich. […] Das Geschäft, besonders für die Briten, scheint zum Stillstand gekommen, und sogar unsere Leute erwägen, hier abzuziehen, was ich jedoch als grossen Fehler betrachte, denn was hier geschieht, ist nicht der Todeskampf einer sterbenden Nation, sondern die Anstrengung einer Wiedergeburt. Und das ist der einzige Lichtblick in dieser Dunkelheit.» In einem anderen Bericht von 1927, «China und die Fremden», heisst es: «Japan hat jahrzehntelang unverdrossen und zähe daran gearbeitet, die Bedingungen zu erfüllen, die heute einem zivilisierten Staate gestellt werden müssen […]. Es ist ein mühsamer Weg, aber wir glauben, es ist der einzige begehbare, und auch China wird ihn betreten müssen.»

      Otto Meister, der am 28. März 1937 in Shanghai starb, sollte nicht mehr erleben, wie sehr sich seine Einschätzung bewahrheitete. Die heutigen, vielfältigen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen China und der Schweiz bestätigen seine visionäre Sichtweise.

      Freunde und Träumer: Meister, Ceresole und Joseph Rock

      Die Jahre von 1922–1930, die Otto Meister in Shanghai verbrachte, sind nicht nur im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Ingenieur interessant, sondern auch wegen privater Ereignisse. In jenen Jahren lernte er nämlich den Österreicher und Amerikaner Joseph F. Rock (1884–1962) kennen, einen Botaniker, Forscher, Naturbeobachter, Anthropologen, Philologen und Linguisten. Der Autodidakt, der zu jedem seiner Interessensgebiete wichtige wissenschaftliche Beiträge leistete, sollte internationale Bekanntheit erlangen. Rock unternahm von Shanghai aus, auf der Suche nach den Quellen der grossen Flüsse und den höchsten Gipfeln der Erde, lange Forschungsreisen bis in die entfernten Grenzregionen Chinas.

      Eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Otto Meister und Joseph Rock ist erhalten geblieben. Sie zeugt von tiefem Respekt und einer Freundschaft zwischen zwei Persönlichkeiten, denen sich aufgrund ihrer Lebensumstände keine Möglichkeit bot, diese weiter zu vertiefen. Otto hätte Rock oftmals wohl gerne begleitet, doch seine Arbeit und die Familie erlaubten ihm nicht, sich auf solche Abenteuer einzulassen.

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      «Unser Bureau». Postkarte von Otto Meister mit dem dem Great Northern Telegraph Corporation Building (links), in dem das Büro von Sulzer untergebracht war, 1924.

      In den über vierzig Briefen ist von Revolutionären und Banditen die Rede, aber auch von Rocks geographischen Entdeckungen, die von weltweiter Bedeutung waren und über die zwischen 1924 und 1930 in der Zeitschrift «National Geographic» Berichte erschienen. Weltweites Aufsehen erregte auch die Polemik zwischen Joseph Rock und «National Geographic»: Rock hatte in einem Artikel Messwerte zur Höhe des Minya Konka, eines Bergs in der chinesischen Region Yunnan, angegeben, denen zufolge dieser höher als der Mount Everest war. Der Fehler ging rund um die Welt. Der Briefwechsel Meister-Rock offenbart die Hintergründe der Polemik, die Dynamik des Irrtums, aber auch die Rolle Meisters in der ganzen Angelegenheit.5

      Im Briefwechsel zwischen Meister und Rock tauchen zwei weitere Schweizer auf, die zu den wichtigen Persönlichkeiten im internationalen Panorama jener Zeit gehörten. Arnold Heim (1882–1965), Sohn der ersten Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin und des Geologen Albert Heim, studierte Geologie in Zürich. Er war Privatdozent an der Universität und ETH Zürich sowie Professor an der Universität Kanton (1929–1931) und interessierte sich für die Auseinandersetzung um den «höchsten Berg der Welt». Beim zweiten handelt es sich um Pierre Ceresole (1879–1945)6, Gründer des Internationalen Freiwilligendienstes für Frieden IVSP. Als engagierter Pazifist wollte er den Militärdienst durch

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