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Lenin dada. Dominique Noguez
Читать онлайн.Название Lenin dada
Год выпуска 0
isbn 9783038550327
Автор произведения Dominique Noguez
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Legen Sie also bitte den Termin des Referats selbst fest, entweder vor dem 25. oder nach dem 26., und benachrichtigen Sie mich rechtzeitig. Ich bitte Sie auch sehr, sich mit Lausanne in Verbindung zu setzen, damit ich in 2 Tagen alles erledigen (…) kann. (…) Es gibt einen günstigen Zug: Er kommt in Genf 9.15 abends an. Ob ich den benutzen kann? Falls nicht, kann dann das Referat in Lausanne nicht am Tag vorher gehalten werden?60
Wenn wir im weiteren berücksichtigen, dass er nicht sofort jede seiner Adressänderungen allen seinen Briefpartnerinnen mitteilte (erst am 12. März 1916 zum Beispiel meldet er seiner Mutter: «Meine liebe Mama! Ich schicke Dir Fotografien (…). Wir wohnen jetzt in Zürich.»61), so werden wir es als sehr wahrscheinlich gelten lassen, dass er sich in Zürich schon einige Zeit vor dem ungefähren Datum («Mitte Februar») aufgehalten hat, an das sich Krupskaja fünfzehn Jahre später erinnert und das – diskussionslos – von allen Biografen übernommen wurde. Anders gesagt: Lenin war früh genug in Zürich, um am Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire teilzunehmen. Und der Einzug Lenins in unmittelbarer Nachbarschaft erscheint uns nicht länger als Zufall, wie wir eingangs dachten, sondern als ganz und gar gewollter Akt.
IV
Begegnungen und Rätsel
Zwei Fragen sind noch unbeantwortet: Wie sind sich Lenin und die künftigen Dadaisten begegnet? Und warum diese Beharrlichkeit, mit welcher von beiden Seiten eine solche Zusammenkunft verborgen, ja gar bestritten wird?
Auf die erste Frage können wir nur mit Hypothesen antworten. Am plausibelsten ist die einer Begegnung zwischen Ball und Lenin, entweder in Zürich, wo Lenin schon lange vor dem Februar 1916 an Konferenzen teilgenommen hat (beispielsweise Ende Oktober 191562), oder in Bern, wo sich auch Ball eine Zeit lang aufhielt, bevor er nach Zürich kam, um sein Cabaret aus der Taufe zu heben. Denn Ball interessierte sich seit jeher für die russischen Revolutionäre. Huelsenbeck bezeugt es:
Er interessierte sich für Bakunin, und er ging zu einer anarchistischen Gruppe in Zürich – auch ich ging dorthin, obwohl ich regelmässig fast einschlief vor Langeweile –, Ball war daran sehr interessiert.63
Gewiss, von Bakunin zu Lenin ist ein langer Weg, aber für einen Internationalisten wie Ball, zugleich skeptisch64 und ökumenisch,* ist jede Stimme gut genug, gehört zu werden, sind alle Begegnungen wünschenswert. Zweite Hypothese: Die beiden Männer sind sich ganz einfach am Eröffnungsabend, dem 5. Februar 1916, begegnet. Schliesslich erschien ja in der Lokalpresse am 2. Februar ein Communiqué, das die Gründung eines Cabarets ankündet, wo «bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge stattfinden», und das «die junge Künstlerschaft Zürichs» einlädt, «sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung» einzufinden. Lenin könnte sehr wohl diese rätselhafte Persönlichkeit sein, die jener «orientalisch» anmutenden Delegation angehörte, die sich, so Ball in seinem Tagebuch, an jenem Abend beim Organisator vorstellte:
* Erwähnen wir jetzt schon die Worte des Aufrufes vom 2. Februar (siehe weiter unten): «… es ergeht an die jüngere Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden» (Hervorhebung des Autors) (Zit. nach Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, a. a. O., S. 71 ; siehe auch Hans Richter, Dada – Kunst und Anti-Kunst, a. a. O., S. 14).
5.11. (…) Gegen sechs Uhr abends (…) erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unter dem Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco, der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging.65
Orientalische Gesichtszüge, kleine Statur:* passt alles zusammen. Diese Hypothese erklärt gewiss nicht, wie Lenin vorher mit den Brüdern Janco und Tzara (oder sie mit ihm) in Kontakt gekommen war, aber sich dies zu erklären, braucht wenig Vorstellungskraft: Alle waren sie im Exil, Slawen, die aus benachbarten Ländern stammen, und alle waren sie am gesellschaftlichen Umsturz interessiert; alles Gründe, die eine Begegnung begünstigen. Ein Ort wie das Café Terrasse in Zürich, wo auch Richter ausgerechnet die drei Rumänen kennenlernte,66 ist im Übrigen einer solchen Begegnung noch förderlich, zumal auch Lenin gern dorthin zum Schachspiel ging.67
* Darüber eine einzige Zeugenaussage – von grosser Statur sozusagen: jene von Joseph Stalin, als er über seine erste Begegnung mit «dem Adler unserer Partei» berichtet, die er im Dezember 1905 anlässlich der Konferenz der Bolschewiki im finnischen Tammerfors hatte. «Ich sah», sagt er, «einen gewöhnlichen Mann von unterdurchschnittlicher Grösse …» (Lénine tel qu’il fut, mit Beiträgen von J. Stalin, W. Molotow, K. Worochilow u. a. Paris, Bureau d’éditions, 1934, S. 21. Hervorhebung des Autors).
Ball ist darüber von Anfang an auf dem Laufenden. Warum aber – und dies ist unsere zweite Frage –, warum aber hat er bis Juni 1917 gewartet, um die Anwesenheit Lenins überhaupt zu erwähnen, und noch dazu, wie wir gesehen haben, in einer so ungenauen Art und Weise?* Wir wären versucht zu antworten: Eben genau weil Lenin zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Zürich ist, sondern unter den bekannt abenteuerlichen Umständen nach Russland zurückgekehrt und deshalb keiner Gefahr mehr ausgesetzt war. Denn für einen politischen Flüchtling wie ihn war es nicht ungefährlich, sich im Cabaret Voltaire öffentlich sehen zu lassen. Alle Zeitzeugen haben die Ironie jener Situation hervorgehoben, in welcher die dadaistischen Spassvögel von der Polizei bespitzelt oder sogar belästigt wurden, während sie jene, die im Begriffe waren, eine der grössten Revolutionen der Geschichte vorzubereiten, glänzend ignorierte.68 Weder Lenin noch die paar Dadaisten, die seine wahre Identität kannten, hatten ein Interesse, daran etwas zu ändern.
* Siehe oben. Das heisst, dass Ball zu durchsichtigen Anspielungen durchaus fähig ist. Siehe unten, Kap. IX, Anm. I.
Doch als Lenin im April 1917 in seine Heimat zurückgekehrt war, hätte die Dadaisten nichts mehr gehindert, zu reden und den wichtigen Anteil, den Lenin in den Anfängen ihrer Bewegung leistete, hervorzuheben. Erstaunlich also ist, wie wir gesehen haben, ihr Schweigen, oder mindestens die Ungenauigkeit ihrer Zeugenaussage. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Merkwürdigkeit ist nicht unbedingt in einer zähen Komplizenschaft mit dem bolschewistischen Führer zu finden, so als ob sein dadaistisches Abenteuer ein schwerer Fehler gewesen wäre, das der Welt für immer hätte verschwiegen werden sollen. Die einleuchtendste Erklärung ist so viel naheliegender: Die meisten Dadaisten haben gar nicht gewusst, dass Lenin in Zürich einer der ihren war. Das war besser so. Denn es existierte nicht nur die äussere Bedrohung durch die Schweizer Polizei: Im Innern selbst des Cabaret Voltaire wimmelte es nur so von seltsamen Typen. Wiederholen wir, welche hauptsächlich vertretenen Gattungen Marcel Janco in seinen Erinnerungen aufzählt:
… Maler, Studenten, Revolutionäre, Touristen, internationale Betrüger, Psychiater, die Halbwelt, Bildhauer und nette Spione auf der Suche nach Informationen.69
Valeriu Marcu bestätigt die Bedeutung dieses letztgenannten Gelichters in Zürich, was in einem neutralen Land zur Zeit des Weltkrieges unschwer erklärt werden kann:
Jede Strassenecke hatte Ohren, Hände schrieben verstohlen in Notizbücher, jeder Laut aus der Fremde wurde