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am Abend des 8. Februar in Bern, wovon ein Artikel in der Berner Tagwacht zeugt.58 Die beiden Städte aber liegen so weit nicht auseinander – hundertdreissig Kilometer in der Eisenbahn –, und nichts hindert Lenin, sich in Zürich niederzulassen und für einen Abend nach Bern zurückzukehren. Erwiesenermassen verfuhr er bei anderer Gelegenheit ebenso: Etwa am 25. Februar 1916, als er nach Bern kam, um eine Veranstaltung unter dem Titel «Zwei Internationalen» abzuhalten.59 Ausserdem belegt sein Brief vom 17. Februar 1916 an Olga S. N. Rawitsch, dass Lenin den Fahrplan der Züge ab Zürich genauestens kannte und sich daraus auch seinen Vorteil zu ziehen wusste:

      Legen Sie also bitte den Termin des Referats selbst fest, entweder vor dem 25. oder nach dem 26., und benachrichtigen Sie mich rechtzeitig. Ich bitte Sie auch sehr, sich mit Lausanne in Verbindung zu setzen, damit ich in 2 Tagen alles erledigen (…) kann. (…) Es gibt einen günstigen Zug: Er kommt in Genf 9.15 abends an. Ob ich den benutzen kann? Falls nicht, kann dann das Referat in Lausanne nicht am Tag vorher gehalten werden?60

      Wenn wir im weiteren berücksichtigen, dass er nicht sofort jede seiner Adressänderungen allen seinen Briefpartnerinnen mitteilte (erst am 12. März 1916 zum Beispiel meldet er seiner Mutter: «Meine liebe Mama! Ich schicke Dir Fotografien (…). Wir wohnen jetzt in Zürich.»61), so werden wir es als sehr wahrscheinlich gelten lassen, dass er sich in Zürich schon einige Zeit vor dem ungefähren Datum («Mitte Februar») aufgehalten hat, an das sich Krupskaja fünfzehn Jahre später erinnert und das – diskussionslos – von allen Biografen übernommen wurde. Anders gesagt: Lenin war früh genug in Zürich, um am Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire teilzunehmen. Und der Einzug Lenins in unmittelbarer Nachbarschaft erscheint uns nicht länger als Zufall, wie wir eingangs dachten, sondern als ganz und gar gewollter Akt.

      IV

      Begegnungen und Rätsel

      Zwei Fragen sind noch unbeantwortet: Wie sind sich Lenin und die künftigen Dadaisten begegnet? Und warum diese Beharrlichkeit, mit welcher von beiden Seiten eine solche Zusammenkunft verborgen, ja gar bestritten wird?

      Auf die erste Frage können wir nur mit Hypothesen antworten. Am plausibelsten ist die einer Begegnung zwischen Ball und Lenin, entweder in Zürich, wo Lenin schon lange vor dem Februar 1916 an Konferenzen teilgenommen hat (beispielsweise Ende Oktober 191562), oder in Bern, wo sich auch Ball eine Zeit lang aufhielt, bevor er nach Zürich kam, um sein Cabaret aus der Taufe zu heben. Denn Ball interessierte sich seit jeher für die russischen Revolutionäre. Huelsenbeck bezeugt es:

      Er interessierte sich für Bakunin, und er ging zu einer anarchistischen Gruppe in Zürich – auch ich ging dorthin, obwohl ich regelmässig fast einschlief vor Langeweile –, Ball war daran sehr interessiert.63

      5.11. (…) Gegen sechs Uhr abends (…) erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unter dem Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco, der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging.65

      Doch als Lenin im April 1917 in seine Heimat zurückgekehrt war, hätte die Dadaisten nichts mehr gehindert, zu reden und den wichtigen Anteil, den Lenin in den Anfängen ihrer Bewegung leistete, hervorzuheben. Erstaunlich also ist, wie wir gesehen haben, ihr Schweigen, oder mindestens die Ungenauigkeit ihrer Zeugenaussage. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Merkwürdigkeit ist nicht unbedingt in einer zähen Komplizenschaft mit dem bolschewistischen Führer zu finden, so als ob sein dadaistisches Abenteuer ein schwerer Fehler gewesen wäre, das der Welt für immer hätte verschwiegen werden sollen. Die einleuchtendste Erklärung ist so viel naheliegender: Die meisten Dadaisten haben gar nicht gewusst, dass Lenin in Zürich einer der ihren war. Das war besser so. Denn es existierte nicht nur die äussere Bedrohung durch die Schweizer Polizei: Im Innern selbst des Cabaret Voltaire wimmelte es nur so von seltsamen Typen. Wiederholen wir, welche hauptsächlich vertretenen Gattungen Marcel Janco in seinen Erinnerungen aufzählt:

      … Maler, Studenten, Revolutionäre, Touristen, internationale Betrüger, Psychiater, die Halbwelt, Bildhauer und nette Spione auf der Suche nach Informationen.69

      Valeriu Marcu bestätigt die Bedeutung dieses letztgenannten Gelichters in Zürich, was in einem neutralen Land zur Zeit des Weltkrieges unschwer erklärt werden kann:

      Jede Strassenecke hatte Ohren, Hände schrieben verstohlen in Notizbücher, jeder Laut aus der Fremde wurde

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