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      Über dieses Buch

      Daniela Kuhn erzählt die bewegende Lebensgeschichte ihrer 1935 geborenen Mutter, einer irakischen Jüdin, die in Israel aufwuchs. 1967 heiratete sie in Zürich einen nichtjüdischen Schweizer, und bald darauf kam ihre Tochter zur Welt. Von ihrer Herkunft, auch von Kindheit und Jugend, sprach die Mutter nie. Sie sagt über sich, sie sei «heimwehkrank».

      Anhand von Gesprächen, Briefen sowie der Agendanotizen ihres seit langem verstorbenen Vaters zeichnet die Autorin die Geschichte ihrer Familie nach. Sie reflektiert auch ihr eigenes Leben, das von der schwer fassbaren Krankheit ihrer Mutter geprägt ist. Das Buch zeugt von der Liebe zwischen Mutter und Tochter, die allen Widerständen trotzt und anhält bis zum heutigen Tag.

      © Ayse Yavas

      Daniela Kuhn, geboren 1969, publizierte als freie Journalistin in verschiedenen Printmedien mit thematischem Schwerpunkt Alter und Psychiatrie. Seit 2016 verfasst sie Auftragsbiografien und bietet Textcoachings an. Im Limmat Verlag sind von ihr bisher sechs Bücher erschienen, zuletzt ihre Reportage zum Besuchs- und Ausgehverbot in Schweizer Heimen, «Eingesperrt, ausge­schlossen». Daniela Kuhn lebt in Zürich.

      Daniela Kuhn

      Mit dir, Ima

      Limmat Verlag

      Zürich

      1

      Im Dezember treffen sich die Israelis in grossen Gruppen am Strand, junge Familien mit zwei oder mehr Kindern, die alle miteinander befreundet zu sein scheinen, obwohl sie sich bis vor Kurzem noch nicht gekannt haben. Goa ist ihr Winterdomizil. In meinem Bett, unter dem Moskitonetz, höre ich die Nach­barskinder miteinander spielen oder ihren Eltern rufen: «Abba, Ima!» – Vater, Mutter!

      Hebräisch ist die Sprache meiner Mutter, unsere Geheimsprache. Vorgestern habe ich per Skype mit ihr gesprochen. Bevor ich abreiste, habe ich ihr ein Tablet gekauft und ihr gezeigt, wie sie es benutzen muss. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt und hatte bisher weder Smartphone noch Computer. Es wird noch etwas dauern, bis sie das Gerät mühelos bedienen kann. Aber ich glaube, sie wird es lernen. Und bis dahin hilft ihr Ben.

      Ben ist ihr Freund. Die beiden haben sich vor acht Jahren im Zürcher Seefeld kennengelernt, sie waren Nachbarn im selben Haus. Ben hatte während Jahrzehnten mit seiner Mutter dort gewohnt. Sie war gerade verstorben, als meine Mutter einzog, der Himmel schickte ihm einen veritablen Ersatz. Später gelangte das Haus in die Hände eines Spekulanten, meine Mutter zog in eine Wohnung, die ich für sie mietete, und Ben fand Unterkunft in einer betreuten Wohngruppe.

      Seit drei Jahren lebt meine Mutter im Altersheim. Zuvor hatte sie zwei Jahre lang im Neubau des Heims in einer Zweizimmerwohnung gewohnt. Sie war dort sehr zufrieden gewesen, sie mochte die Nachbarinnen und lud einmal im Jahr ihren Bruder Mosche für eine Woche zu sich ein. Dann stellte sich heraus, dass die Sozialbehörden die Miete dieser Wohnung irrtümlicherweise bezahlt hatten, das Heim aber über kein entsprechendes Ab­­kommen verfügte. Meine Mutter, die bis dahin selbstständig eingekauft und gekocht hatte, musste ins Hauptgebäude wechseln, in ein Zimmer mit Balkon. Mit den drei Mahlzeiten, die nun mitbezahlt werden, ist es weitaus teurer.

      Früher wäre meine Mutter angesichts eines erzwungenen Umzugs krank geworden. Sie hätte sich in ihre eigene Welt zu­­rückgezogen, sie hätte Stimmen gehört, unter deren Anleitung sie vielleicht eine lange Reise gemacht und viel Geld ausgegeben hätte, bis sie irgendwann nur noch im Bett gelegen wäre und der Notfallpsychiater sie in die Klinik eingewiesen hätte.

      Vor vier Jahren war meine Mutter zum letzten Mal in der Klinik. Die Krankheit ist im Alter nicht verschwunden, aber über weite Strecken in den Hintergrund getreten. Die dramatischen Zeiten sind lange her. Was ihr heute begegnet, nimmt meine Mutter so, «wie es von Gott bestimmt ist». Sie lehnt sich nicht mehr gegen die Widrigkeiten des Lebens auf, sondern vertraut auf den göttlichen Plan. «Du kannst die Geschichte meines Le­­bens schreiben», sagte sie mir kürzlich, «denn sie endet gut: Dank meiner Rückkehr zu Gott bin ich nicht mehr krank.»

      Seit meine Mutter zu ihren Wurzeln zurückgefunden hat, ist sie tatsächlich aufgeblüht. Sie strahlte, wenn die Mitglieder der jüdischen Gemeinde sie bei ihren regelmässigen Besuchen in der Synagoge herzlich empfingen und in ihren Kreis aufnahmen. Heute gefällt es ihr im Altersheim. Kein Hauskonzert, Vortrag oder Ausflug, an dem sie nicht teilnimmt. Ja, wer hätte gedacht, dass sie eines Tages so glücklich sein würde. Nie hätte ich für sie ein so friedliches und gutes Alter auch nur zu hoffen gewagt. Wenn wir abends telefonieren, sagt sie: «Ich hatte einen schönen Tag.»

      Eine Pflegerin bringt ihr morgens und abends winzige Ta­­bletten, Neuroleptika, die sie beruhigen. Meine Mutter sträubt sich nicht dagegen, obwohl sie lieber darauf verzich­ten würde. Vor allem, weil sie nun ein paar Kilos mehr wiegt, ob­­­wohl sie sehr wenig isst. Das leichte Zittern in ihren Händen ist eine Nebenerscheinung der vielen Psychopharmaka, die sie in ihrem Leben geschluckt hat. Ausgerechnet sie, die sich immer besonders gesund und bewusst ernährt hat, die zu meinem grossen Ärger als Kind immer Vegetarierin war. Seit sie im Altersheim ist, schickt sie sich in die medikamentöse Behandlung und be­­sucht auch alle zwei Wochen ihren Psychiater. In den letzten beiden Dekaden traf sie es mit ihren Psychiatern gut: Die ersten beiden waren Israeli, meine Mutter war überglücklich, mit ihnen He­­bräisch sprechen zu können; den aktuellen, russischen Arzt mag sie nicht weniger. Sie schwärmte anfangs regelrecht von ihm und wollte mich mit ihm verkuppeln, auf ihrem Büchergestell stand ein Foto von ihm und eines von mir. Sie erzählt mir, sie hätten es immer lustig miteinander, er würde ihr jeweils Espresso servieren.

      Dass ich ihre Sprache spreche, ahnen die israelischen Familien hier nicht. Eine Israelin, die mit achtundvierzig Jahren für längere Zeit allein nach Goa kommt, wäre sehr ungewöhnlich.

      Meine Mutter ist mit drei Brüdern und vier Schwestern aufgewachsen. Schulamit lebt heute in Florida, Chava in Kalifornien, Ahuva, Victoria und Mosche leben in Israel, die beiden älteren Brüder sind gestorben. Ausser Victoria sind alle umgeben von mehreren Kindern, Enkeln und Urenkeln. Meine Mutter hätte auch mehrere Kinder gewollt, aber nach meiner Geburt war mein Vater nicht mehr dazu bereit. Er und seine Eltern kümmerten sich um mich, wenn meine Mutter weg war. Auf der Suche nach der grossen Liebe reiste sie mehrmals nach Amerika, einmal verfrachtete sie ihr ganzes Hab und Gut dahin. Ein anderes Mal wohnte sie monatelang bei ihrer Schwester Chava, die sie erfolgreich mit einem Schweizer Juden verkuppelt hatte. Etliche Wochen logierte sie im teuren Hotel Sonnenberg. Welche Wege sie in ihren Wahnvorstellungen auch ging, am Ende fand sie sich in der Klinik wieder, im doppelten Sinne des Wortes.

      Den Schmerz, von ihr getrennt zu sein, spüre ich noch heute, wenn wir uns nach einem innigen Treffen verabschieden. Wenn sie mir an der Tür des Altersheims winkt, bis sie mich nicht mehr sieht, laufen mir manchmal die Tränen übers Gesicht. Ich war zwei Monate alt, als wir das erste Mal getrennt wurden. In der Krankengeschichte, die ich mit dem Einverständnis meiner Mutter von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich erhalten habe, lese ich, meine Mutter sei damals «schwer kataton» gewe­sen, sie habe sich am Boden gewälzt, sei aufgestanden, habe eine Lampe angezündet und entrückt ins Licht geblickt, «vollkommen mutistisch». Sie habe gesagt, sie lebe in zwei Welten, aus der ei­­nen kämen Vorwürfe, sie höre Stimmen, die sie be­­schuldigten, ihre Familie verlassen und eine Sünde begangen zu haben. «Hier in der Klinik seien Tiere, vor denen sie Angst habe. Heute Nacht werde sie von denen vielleicht aufgegessen und ausgetrunken.»

      Mein Vater nahm mich in der blauen Tragtasche in den Frauen­­besuchssaal mit. Zwei Tage später verschmierte meine Mutter mit ihrem Stuhl ihr Zimmer, «legte Kotballen auf ihren Teller», war «im Säli nachher wieder nett wie zuvor» und sagte dazu nur, bis heute sei sie rein gewesen. Nach drei Wochen wurde sie als geheilt entlassen.

      Sie habe ein hübscheres Kind erwartet, erzählte mir mein Va­ter. In den Nächten, in denen er mit mir allein gewesen sei, habe er fast nicht schlafen können, er habe immer hören wollen, ob ich atmete. Mein Vater war in diesem Sommer achtunddreissig Jahre alt. Noch zwei Jahre zuvor hatte er bei seinen Eltern ge­­­wohnt, in einem grossen Haus im Bauhausstil am Stadtrand von Zürich. Die Dreizimmerwohnung meiner Eltern lag nur wenige Minuten zu Fuss davon entfernt,

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