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      Über dieses Buch

      Die drei Romane «Daskind», «Brandzauber» und «Ange­klagt» bilden gemeinsam eine Trilogie, die in ihrer Radi­kalität in der Schweizer Literatur einzigartig ist. Erstmals erschienen zwischen 1995 und 2002, verhandeln sie die exis­tenzielle Dimension der Gewalt.

      Neben Mariella Mehrs reichem lyrischem Werk ist die «Gewalt­-Trilogie» ihr Hauptwerk. Während in «Daskind» die Thematik der Ge­walt durch das Brechen einer Identität aufgegriffen wird und die Gewalt im sozialen Rahmen der Dorfgemeinschaft stattfindet, widmet sich «Brandzauber» dem paralysierten Leben einer bereits zerbrochenen Identität, es geht um die in der Geschichte gespeicherte und weitergegebene Gewalt. Der letzte Band «Angeklagt» zeugt von einer beängstigen­den Neuformierung von Identitätsbruchstücken, die nack­te Gewalt, der Trieb sind die zentralen Motive des Romans.

      Mariella Mehrs Erzählkunst ist von einer archaischen Kraft, die auch in der Sprache spürbar wird. Dabei haben ihre Werke nichts von ihrer Aktualität ein­gebüsst: Im Kontext der laufenden Aufarbeitung der Ge­schichte der Fremdplatzierungen und Zwangsmassnah­men in der Schweiz sind sie hochaktuell. Brisant ist aber auch das Thema der Gewalt gegen «Andersartige» und der problematische Umgang mit Aussenseitern.

      Foto Ayşe Yavaş

      Mariella Mehr, 1947 in Zürich geboren. Als Angehörige der Jenischen war sie seit frühester Kindheit von der Aktion «Kinder der Landstrasse» betroffen. Sie wurde von der Mutter getrennt und wuchs in Heimen, bei Pflegeeltern und in Erziehungsanstalten auf.

      Seit 1975 ist sie als Journalistin und Schriftstellerin tätig. Bereits ihr erster Roman Steinzeit (1981) fand grosse Beachtung und wurde vom Kanton Zürich ausgezeichnet. Als ihr Hauptwerk gilt die sogenannte Trilogie der Gewalt, mit Daskind (1995), Brandzauber (1998) und Angeklagt (2002).

      1998 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr publizistisches Engagement für unterdrückte Minderheiten verliehen. Für ihr literarisches Werk erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1996), den ProLitteris-Preis (2012), den Bündner Literaturpreis (2016) und eine Anerkennungs­­gabe der Stadt Zürich für ihr Gesamtwerk (2017).

      Mariella Mehr

      Daskind

      Brandzauber

      Angeklagt

      Romantrilogie

      Limmat Verlag

      Zürich

Daskind

      Für Erica Brühlmann-Jecklin

      1

      Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleiner­bub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Härchen, Dreckigerbalg.

      Hat keinen Namen, Daskind. Darf nicht heißen. Darf niemals heißen, denn dann könnte keine der Frauen im Dorf, der danach zumute ist, Daskind Kleinerbub nennen oder Frecherfratz, zärtlich, gierig. Oder Saumädchen, Hürchen oder Dreckigerbalg, wenn Daskind Bedürfnisse hat. Wer sagt schon Saumarie, Hurenvreni, Dreckrosi. Gewiss könnte man das sagen, aber es ist zu aufwendig, zu umständlich, sich des Namens des Kindes zu erinnern.

      Also, Daskind.

      Daskind spricht nicht, hat nie gesprochen. Schweigt düster. Schreit und tobt gelegentlich, anstatt zu sprechen. Hat nur eine Luftsprache, die Dörfler Dörfler nennt oder Frauen, Männer, Nähe­rin, Schwestern, wenn es Nonnen sind, Herrpfarrer, Sigrist. Totengräber, Coiffeur, Po­lizist, Gemeindepräsident, Abdecker, Pflege­vater, Pflegemutter und den Pensionisten im Pflegeelternhaus:

      Denpensionisten. Ein Knecht. Beim Großbauern ganz in der Nähe verdingt. Mit immergrünem Gesicht im Grünenzimmer, so nennt die Pflegemutter den Raum neben der Kammer des Kindes, weil dort im Winter die Geranien lagern und die Wände des Zimmers lindgrün gestrichen sind.

      Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer. Über dem Scheitel des Kindes der leidende Christus am Kreuz. Silbern leuchtend auf dunklem Holz. Das lange Silberhaar um den silbernen Kopf und einrahmend das silberne Lächeln, den silbernen Tod. Silberblut quillt aus dem silbernen Herzen, Silberherz stirbt. Stirbt immerzu. Wie kann einer, denkt Daskind, immerzu sterben. Ohne Groll. So ist das Leben des Kindes im Hause Idaho, umsorgt von Derfrau und Dem­mann – Pflegemutter und Pflegevater –, ein Silbertodimmerzu. Im Beisein der Silbereltern, des Silbervaters, der Silbermutter: Die winken dem Sterben des Kindes zu, lachen es an und strafen es silbern, wenn nicht der Kleinefratz, zärtlich, sondern Daskind, Derfreche­fratz, Dassaumädchen, Hürchendreckiger­balg Bedürfnisse äußert, die der Kleinefratz, zärtlich, nicht äußert.

      Dass zum Beispiel nachts die Tür der Kammer des Kindes offen stehe, damit sich Daskind nicht so ganz alleine fühlt. Dass das Licht brenne im Korridor, bis Daskind schläft. Dass man ihm die Angst nimmt vor der Nacht und dem Immergrünen im Grünenzimmer. Dass kein Silberpfahl wachse ins kindliche Herz und keiner eindringe in jene Bereiche, die kein Grün kennen, nur kindlichen Schlaf.

      Dass Fritz, der Kater, sich nicht auf die Brust des Kindes legen darf, wenn es schläft und zu Tode erschrickt, wenn die Brust keinen Atem mehr hat und Fritz, der Hauskater, wie eine frevelnde Hand, eine schwere, auf der Brust des Kindes ruht.

      Dass endlich Vergeltung einbräche in diese Dunkelwelt, denkt Das­kind, um alle Schuld zu sühnen, die des Kindes und die der an­dern. Daskind will wissen, dass es schuldig ist, ein Silberleben lang. Weshalb sonst stürbe der andere, der Silberleib am dunklen Holz, seinen Silbertod immerzu.

      Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer, tagsüber Nähstube, Café, Klatschraum. Daskind, Kindfüralle. Winterkind. Win­ter­balg.

      Winterkind spricht nicht. Tobt auch nicht und schreit nicht. Sitzt still auf dem roten Sofa. Starrt auf den grauen Haarknoten der Pflegemutter Frieda Kenel, geborene Rüegg. Die singt, singt Fernimsüddas­schönespanien. Singt mit brüchiger Stimme das Lied von den Trauben, der Sonne und einer einsamen Liebe, die keine Erfüllung findet. Singt, den Rücken dem Kind zugekehrt, singt und denkt an den Stoff in ihren Händen, der ein Kleid für die Freudenstau werden soll. Fernimsüddasschönespanien. Denkt nicht an Daskind, hat Daskind vergessen wie alle Nachmittage zuvor, wenn Daskind auf dem Sofa saß und rot der samtene Überzug und Daskind ein Warten.

      Warten. Auf was denn?

      Vielleicht einmal anders.

      Ohne Angst.

      Einmal zuschlagen.

      Bescheiden, verstohlen, vorsichtig.

      Zum Beispiel die Freudenstau.

      Daskind vor der Freudenstau. Hört den Wind in den Tannen pfeifen. Ein hoher, schriller Ruf. Muss das Hören anhalten, Daskind. Muss schreien, Daskind, mit weit offenem Mund im wild wiegenden Kopf. Hin und her, auch das Schreien wild wiegend, hinauf zum orgelnden Locken in den Tannen.

      Der weiße Speichel in den Mundwinkeln der Kundin Freudenstau. Die auf dem Berg wohnt. Auf dem Tannsberg. Teilt den Berg mit zwei roten Hunden. Höllenhunden. Auch sie träumen vom Zuschlagen.

      Daskind ist in seiner blauen Windjacke, eine ungenaue Adresse. Immerhin, eine Adresse.

      Und mit seinen nackten Füßen. Immerhin.

      Die Freudenstau. Die den Berg mit zwei roten Hunden teilt. Den Höllenhunden. Fressen täglich zwei Kilo rohes Fleisch, saufen Milch aus einer silbernen Gelte.

      Wöchentlich einmal wird dem Kind befohlen, das rohe Fleisch auf den Berg zu bringen.

      Schleppt den Rucksack voller Fleisch auf den Berg, Daskind. Atmet schwer.

      Liegt auf der Lauer, Daskind, oben am Berg, am Tannsberg, den Blick fest auf das Haus gerichtet. Starrt auf die Tür und flüstert den Bannreim. Kann nur hoffen: Zuerst die Freudenstau, dann die Hunde. Wenn der Bannreim nichts taugt, preschen die zwei Hunde mit fürch­terlichem Gebell vor, stieben in den Steingarten, zertrampeln die

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