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"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba
Читать онлайн.Название "... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"
Год выпуска 0
isbn 9783955102678
Автор произведения Meinhard Saremba
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Positionsbestimmungen
Mitte Juni 1853 zog Reményi mit Brahms im Schlepptau vom Königreich Hannover weiter zum Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Der Ungar versprach sich viel von einer Protektion durch seinen Landsmann Ferenc Liszt, ebenso wie der Weimarer Hof 1842 hohe Erwartungen mit dem Engagement eines der führenden Musiker Europas verband. Dass dieser sich überhaupt herabließ, sich an den spartanisch ausgestatteten Weimarer Hof zu begeben, hing zusammen mit der leidenschaftlichen Zuneigung zu einer Frau und der Passion für die Kultur. Im Februar 1847 hatte Liszt bei einem Gastspiel in Kiew die wohlhabende polnisch-russische Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein kennengelernt. Beide fühlten sich miteinander geistesverwandt und Liszt betrachtete sich bald als »Seeleneigener« der Fürstin, wie er es in einer Analogiebildung zum ›Leibeigenen‹ in einem Brief formulierte.46 Der Musiker und die Adelige konnten stundenlang über Philosophie, Religion und Kunst debattieren, was dann auch ihr praktisches Engagement beförderte. Ihr dreistöckiges Domizil in der Jenaer Straße in Weimar war die sogenannte ›Altenburg‹ (nach dem einstigen Flurnamen »Die Alte Burg«), in der man ab 1848 für dreizehn Jahre residierte. Sie wurde zum Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle. Die Atmosphäre beschrieb der Dichter Friedrich Hebbel als »traumhaft-phantastisch«, insbesondere wenn bei großen Abendgesellschaften Liszt am Klavier »Zigeuner-Rhapsodien« anstimmte, mit denen er selbst den Poeten »elektrisierte«. »Am Klavier ist er ein Heros«, erinnerte sich Hebbel bewundernd, »hinter ihm, in polnisch-russischer Nationaltracht mit Halbdiadem und goldenen Troddeln die junge Fürstin, die ihm die Blätter umschlug und ihm dabei zuweilen durch die langen, in der Hitze des Spiels wild flatternden Haare fuhr.«47 Die Welt, in die Brahms hier eintauchen sollte, bot einen beinahe surrealen Kontrast zum Umfeld der Schumanns, von dem er bei Joachim schon einen Vorgeschmack bekommen hatte. »Joachim ist einzig«, meinte der Leipziger Thomaskantor und Konservatoriumsmitbegründer Moritz Hauptmann einmal über den Geiger, denn »bei dem ist nicht die Technik und nicht der Ton und nichts von allem, was man sagen kann, sondern daß das alles zurücktritt, sich gar nicht bemerkbar macht, daß man eben nur die Musik hört.« Dabei machte sich Joseph Joachim die Kompositionen so zu eigen, dass er selbst komplexe Beethoven-Sonaten auswendig vortragen konnte, und zwar, wie Beobachter feststellten, »so geistreich in der Auffassung, mit einer Übereinstimmung und Vollendung der Auffassung, wie man sie nicht leicht finden wird«.48 Damit bildete er ein Pendant zu Clara Schumann, die in Konzerten ebenfalls ohne Noten antrat. Doch nicht nur das: »Sie übte meist ohne Noten«, erzählte ihre Tochter Eugenie, »und ich erinnere mich einzelner Gelegenheiten, wo sie mir, als ich während des Übens in ihr Zimmer kam, zurief, ich möge ihr das Stück, welches sie gerade spielte, heraussuchen, sie müsse etwas nachsehen.«49
Wie Clara beeindruckte Joseph Joachim neben seinem musikalischen Können als »ein äußerst angenehmer Mensch von liebenswürdigem Wesen«.50 Mochte diese »gedrungene, nachlässig gekleidete Gestalt mit ihren wirren, emporstehenden Haaren« auch wenig optische Reize bieten, so beeindruckten der »Adel und die Fülle des Tons, die vollendete Technik, die geistvolle Auffassung«, wie ein Presserezensent feststellte. »Da gab es nichts Müßiges, keinen eitlen Virtuosenschmuck, sondern alles, jedes sforzato, crescendo, staccato fand in dem Ganzen seine Rechtfertigung.«51 Dieser Mann mit »der hohen Stirn, auf der die erhabensten Gedanken ihre leuchtenden Spuren hinterlassen«, wirkte wie ein unprätentiöser Künstler, aus dessen tiefliegenden Augen »der kühnste Geist und die wärmste Menschenliebe hervorschauten« und um dessen Lippen »der Schmerz seine schärfsten Linien und Falten gezogen« hatte.52
Bei Franz Liszt hingegen fielen nicht nur Robert Schumann Vokabeln wie »Flitterwesen« ein. Den Schumanns stand die künstlerische Haltung von Joachim erheblich näher. Der Musikpädagoge und Joachim-Vertraute Andreas Moser meinte, der »durch seine unerhörten Triumphe als Virtuose so verwöhnte Liszt« sei stets geneigt gewesen, »den äußerlichen Erfolg und Glanz über das eigentliche Wesen der Kunst zu stellen«. Wenn ihm nach dem Vortrag einer Beethovenschen Sonate der Applaus nicht die gewohnte Stärke zu haben schien, ließ er »unmittelbar darauf ein nichtssagendes Tonstück folgen«, um seine »pianistischen Hexenkünste« zur Schau zu stellen, mit dem Ergebnis: »der Erfolg war da, die Virtuosenehre gerettet!«53
Was Brahms im Sommer 1853 drei Wochen lang in Weimar erleben sollte, hatten die Schumanns schon hinter sich: Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Liszt. Robert Schumann pflegte einige Jahre lang ein von respektvoller Anerkennung getragenes Verhältnis zu Liszt, zumal beide in Zeitungsbeiträgen Wohlwollendes übereinander schrieben. Doch die Kollegialität wich zunehmender Distanz. »Aber Klärchen, diese Welt ist meine nicht mehr, ich meine seine«, schrieb Robert Schumann an seine Braut. »Die Kunst, wie Du sie übst, wie ich auch oft am Clavier beim Componieren, diese schöne Gemütlichkeit geb’ ich doch nicht hin für all seine Pracht.«54 Der hier verwendete bürgerliche Begriff des »Gemütlichen« wurde zu diesem Zeitpunkt noch als ausgesprochen positiv empfunden: Im 18. Jahrhundert verband man ihn mit Herzenswärme, später mit Menschlichkeit, Besinnung, Innigkeit, Konzentration, Hingabe, Privatheit. Verglichen mit Clara Schumanns subtilen Interpretationen waren Liszts Darbietungen selbst in den kleinsten Kammern öffentliche Spektakel. Dass »Liszts Vorbild und Unterweisung auf dem Gebiet der rein technischen Seite des Klavierspiels außerordentlich fördernd sein musste, versteht sich von selbst«, konstatierte der Komponist Ernst Rudorff. »Um die Bildung des Anschlags scheint er sich weniger bemüht zu haben.« Das »Rüstzeug«, um »aufzufallen und geistreich zu erscheinen«, bestand laut Rudorff »in unmotivierten Temporückungen, in Übertreibungen der Stärkegrade nach oben und unten hin, Übertreibungen der Kontraste sowohl in dynamischer wie in rhythmischer Beziehung, ungebührlicher Anwendung der Verschiebung und ähnlichen Dingen«. Nach seiner Auffassung hat Liszt »eine Schule der Willkür, der Affektation, der effektvollen Pose hinterlassen, der es leider gelungen ist, Boden im Überfluss zu gewinnen«.55 Clara und Johannes konnten überaus aggressiv reagieren auf Entwicklungen im Konzertleben, die ihrer Meinung nach den Ereignischarakter überbetonten und den Gehalt von Kunst vernachlässigten. Einmal meinte Brahms zu Clara Schumann, »das ganze Wien wird einem immer gemütlicher«, aber »die Menschen und gar die Künstler immer widerlicher, die Art, wie sie sich zum Publikum und zur Kritik stellen, vor ihm spielen und von ihm abhängen, nimmt einem alle Luft, als Kollege den Schwindel mitzumachen«.56 Auch Clara zeigte ihm viel »Unerquickliches« an: »So wie Du neulich auch von Wien schriebst, ist es überall. Die Unverschämtheit mancher Künstler geht ins Unglaubliche, so z. B. hier die eines Herrn Dr. Satter – solche Reklame war in Deutschland noch nie da, und – gelitten!!! Gehört habe ich den Zeitungshelden nicht, ich mag solche Klavierspieler gar nicht hören!«57
Künstler wie Johannes Brahms, Clara und Robert Schumann sowie Joseph Joachim bildeten dazu einen Gegenpol. Franz Liszt hätte sie nur allzu gerne für seine Anliegen gewonnen: Wir sind die Speerspitze der Moderne, suggerierte er, wir haben die künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten, die Geisteszwerge und die Gegenwart zu dominieren. Zum Teufel mit dem Gestrigen – wir sind das Jetzt und die Zukunft! Schließt Euch uns an!! Seine Einflüsterungen boten verlockende Aussichten: Ist Musik wie Schumanns poetische Klavierwerke und Joachims literarisch geprägte Konzertouvertüren nicht die unsrige? Und war Roberts d-Moll-Sinfonie nicht verkannt worden? Welcher Zukunftsmusiker wäre nicht verkannt gewesen …
Es gab durchaus Überschneidungspunkte. Clara und Johannes engagierten sich für das Werk Robert Schumanns, das zumindest teilweise zeitgenössische Musik im Sinne von Liszts damaliger Haltung darstellte. Zudem lagen ihnen Kunst und Kultur aus deutschsprachigen Ländern am Herzen. Und Liszt stürzte sich in den 1850er-Jahren voller Verve in ein Projekt, bei dem genau diese im Mittelpunkt standen. Dafür erschien ihm Weimar als der geeignete Ort, denn die im thüringischen Becken gelegene Stadt galt dem Musiker und seiner Fürstin