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"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba
Читать онлайн.Название "... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"
Год выпуска 0
isbn 9783955102678
Автор произведения Meinhard Saremba
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Jedoch erschien anfangs illusorisch, dass man sich überhaupt jemals wieder so nahekommen sollte wie im Frühjahr 1850. In künstlerischer Hinsicht spielten die Schumanns in einer völlig anderen Liga als jeder andere, der in Hamburg ein Instrument beherrschte. Die wirklich hochbegabten Hanseaten hatten es andernorts zu etwas gebracht: Felix Mendelssohn Bartholdy in Berlin und Leipzig sowie Carl Reinecke im Rheinland und später in Leipzig. Die Schumanns kamen aus Sachsen, arbeiteten aber seit September 1850 in Düsseldorf. Dies war für einen namenlosen Musikanten aus dem Norden ohne Kontakte in der Musikszene eine nahezu unüberwindliche Distanz, zu der sich noch persönliche und praktische Hindernisse gesellten. Johannes selbst war nicht aufdringlich. Er wurde immer wieder auf die Schumanns verwiesen und letztlich eher zu ihnen hingeleitet, als dass er den Berühmtheiten nachstellte. Zudem war das Reisen nicht nur mit hohen Kosten verbunden, sondern auch mit verkehrstechnischen und politischen Hindernissen. Johannes Brahms wurde schon in die Ära einer neuen Infrastruktur hineingeboren; hingegen hatten Robert und Clara Schumann den bisher größten Teil ihres Lebens in einer Epoche zugebracht, in der man selbst auf langen Strecken beschwerliche Kutschfahrten auf sich nehmen musste. In den Genuss der neuen Dampfeisenbahn kam man vorerst nur auf vereinzelten, kurzen Nebenstrecken wie etwa ab 1835 zwischen Nürnberg und Fürth, 1838 zwischen Potsdam und Berlin sowie 1844 zwischen Altona und Kiel. Bis das Grundkonzept eines deutschen Eisenbahnsystems, wie es dem Nationalökonomen Friedrich List vorschwebte, auch nur halbwegs Gestalt annehmen konnte, sollte mindestens eine weitere Dekade vergehen. Clara Schumann war seit ihrer Jugend mit Lists Töchtern befreundet und erlebte die Schwierigkeiten sowie die Versuche, sie zu bewältigen, unmittelbar mit. Eindringlich schilderte beispielsweise der spätere Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke, wie er auf dem Weg zur Leipziger Ikone Mendelssohn von Grasbrook in Hamburg zunächst mit einem Dampfboot auf der Elbe stromaufwärts bis Magdeburg fahren musste, was von 8 Uhr morgens bis zum übernächsten Tag um 3 Uhr nachmittags dauerte. Erst von dort konnte er die 1840 fertiggestellte Zugverbindung nach Leipzig nehmen. Bei Geschwindigkeiten von bis zu 65 Stundenkilometern bei Dampfwagen wie »Adler« und seiner Schwestermaschine »Pfeil« sowie mehreren Haltestationen dauerte die Reise etliche Stunden; ab den 1890er-Jahren fuhren Lokomotiven im Personenverkehr in Deutschland und Österreich schneller als 100 Stundenkilometer. Reinecke erschien das Tempo, mit dem man auf den Schienen dahinrollte, »geradezu märchenhaft«.19 Bei der Einrichtung dieser Verbindung gab es ein grundsätzliches Problem, das für Clara Schumann und Johannes Brahms weit über die Hälfte ihres Lebens hinweg Alltag war: die Kleinstaaterei der deutschsprachigen Länder. Die Magdeburg-Leipziger Eisenbahn-Gesellschaft entwarf eine Strecke, die mehrere Hoheitsgebiete berührte, denn neben den Königreichen Preußen (Magdeburg, Halle) und Sachsen (Leipzig) durchquerte sie auch das Herzogtum Anhalt-Köthen. Jeder Grenzübertritt bedeutete Passkontrollen, andere Währungen, andere Preise, andere Mentalitäten und andere Uhrzeiten. Bis kurz vor ihrem Lebensende kannten Clara und Johannes deutschsprachige Gebiete nur mit unterschiedlichen Zeitzonen, denn bis 1893 änderte sich die Ortszeit von West nach Ost pro Längengrad um eine Minute. Signalisierte die Turmuhr in Düsseldorf 12 Uhr mittags, war es in Baden-Baden bereits 12:07 Uhr, in Hamburg 12:12 Uhr und in Berlin 12:27 Uhr. Um Missverständnisse bei Empfängen und Konzertbesuchen sowie Verspätungen und Zusammenstöße der öffentlichen Verkehrsmittel zu vermeiden, erschien eine einheitliche Zeitregelung dringend erforderlich. Eine Einigung lag trotz des Ausbaus der Fernverbindungen allerdings in weiter Ferne – noch viele Jahrzehnte musste man in Kauf nehmen, dass durch das Ortszeitensystem die kostbare Taschenuhr mitunter schon beim Überqueren der Stadtgrenze zwei Minuten falsch ging. Gegenüber Clara meinte Johannes einmal, er sei »ein etwas altmodischer Mensch« und »kein Kosmopolit«, sondern eher jemand, der »wie an einer Mutter« an seiner »Vaterstadt hänge«.20 Kein Wunder, dass es die Familie Brahms nicht in die Ferne zog.
In der Welt zu Hause
Johannes Brahms besaß während seines ganzen Lebens, also in fast 64 Jahren, mit Hamburg und Wien nur zwei dauerhafte feste Hauptwohnsitze. Selbst wenn der Kettenraucher und Schlemmer so alt geworden wäre wie Clara Schumann, hätte ihn nichts und niemand mehr aus Wien fortlocken können. Clara hingegen lebte im Laufe ihrer Lebenszeit von über 76 Jahren in sechs sehr unterschiedlichen Städten: Leipzig, Dresden, Düsseldorf, Berlin, Baden-Baden und Frankfurt am Main. Das Ehepaar Schumann verbrachte nach der Eheschließung 1839 zunächst fünf Jahre zusammen in Claras Geburtsort Leipzig. Ihr Mann Robert versuchte nach einem Umzug in die sächsische Hauptstadt Dresden sechs Jahre lang vergeblich, dort bei einem Orchester oder Opernhaus eine feste Anstellung zu ergattern. Als Ende 1849 ein entsprechendes Angebot aus Düsseldorf kam und das Amt des Städtischen Musikdirektors winkte, zogen beide im September 1850 ins Rheinland.
Clara Schumanns Konzerttätigkeit war bis dahin die zuverlässigste Einkommensquelle der Familie. Von ihrem Ruhm, den sie sich ab dem zwölften Lebensjahr als Tochter des namhaften Klavierpädagogen Friedrich Wieck erspielt hatte, konnte sie noch neun Jahre nach der Namensänderung zehren. Bereits als junges Mädchen hatte sie einen Radius von Breslau bis Paris und von Hamburg bis Wien. In den Ehejahren beeindruckte sie bei Konzerten von Königsberg bis Köln und von Norderney bis Elberfeld sowie bei Auslandsauftritten in Kopenhagen, Mitau, Riga, Dorpat, Wien, Brünn, Prag, Sankt Petersburg und Moskau. Robert Schumann, der Komponist, stand meistens nur als ihr Anhängsel abseits, während seine Frau als begnadete Künstlerin gefeiert wurde. Seine eigene Hoffnung auf eine Pianistenlaufbahn hatte er schon zehn Jahre zuvor aufgeben müssen: Damals trainierte er wie besessen und traktierte seine Hände mit einem mechanischen Übungsgerät, das einzelne Finger zurückhalten sollte, um sie gezielt zu stärken. Allerdings waren – wie er notierte – taube Finger, »unendlichste Schmerzen im Arm« und eine »Erlahmung« der rechten Hand die Konsequenz.21
Auch wenn bei ihr zwanzig Jahre lang mit einer anderen Technik alles gut gegangen war, hätte dies Clara eine Mahnung sein können, wie verletzlich und empfindlich die Handmuskulatur ist. Aber sie stellte keinerlei Verbindungen zwischen der Methodik ihres Mannes und den oft lange anhaltenden Muskelkontraktionen her,22 die auch die Folge einer neurologischen Erkrankung wie der fokalen Dystonie sein konnten.23 Notgedrungen verlegte sich Robert vom Interpretieren auf das Entwerfen von Musik. Dadurch beeinträchtigte er Claras Konzertvorbereitungen, denn solange er in seinem Zimmer neue Sinfonien und Sonaten ersann, durfte sie im Haus nicht Klavier spielen. Ihre Reisemöglichkeiten beschnitt Robert, da kaum ein Jahr verstrich, in dem er sie nicht schwängerte. Sie als gläubige Protestantin betrachtete ihrerseits eine ansehnliche Kinderschar allerdings auch als ›Segen Gottes‹. Während der Komponist Arthur Sullivan in den Tagebüchern sich einer Beischlafbuchführung befleißigte, um mit seiner Partnerin die exakte Woche einer unbeabsichtigten Zeugung ermitteln zu können, pflegte Robert Schumann diese Methode wahrscheinlich, um zu kontrollieren, in welchem Rhythmus er Claras erfolgreichere Karriere aussetzen konnte. Aus zehn Gravitäten in nur 13 Jahren gingen acht Kinder hervor, von denen eines im Säuglingsalter verstarb. Jede Lebensstation war damit verknüpft: In Leipzig kamen Marie (1841) und Elise (1843) zur Welt; in Dresden Julie (1845), Ludwig (1848), Ferdinand (1849) und der mit nur 16 Monaten verstorbene Emil (1846); in Düsseldorf Eugenie (1851) und Felix (1854).
Clara war vorgewarnt. Kurz vor der Eheschließung bereitete der Zwanzigjährigen Sorgen, sie könne »als Künstlerin vergessen« werden.24 Roberts schriftliche Antwort hätte sie eher beunruhigen sollen, als er schrieb: »Warte, wie ich Dir die Künstlerin vergessen machen will – denn das Weib steht doch höher als die Künstlerin.«25 Doch mit ihrem Bekenntnis »Nun, mein Leben ist Dir, nur an Dich gekettet, Du bist meine Stütze, meine Hoffnung! Deine Clara« hatte sie seine Bedingungen akzeptiert.26 Ihre Zuneigungsbekundungen entsprachen völlig dem Stil ihrer Zeit. Das Bürgertum überlieferte eine Korrespondenz voll aristokratischer Würde, denn gerade Blaublütige wie etwa die rheinische Prinzessin Elisabeth zu Wied, mit der Clara Kontakt pflegte, verwendete in ihrem Schriftwechsel Formulierungen wie »O Carl, Gott