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"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba
Читать онлайн.Название "... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"
Год выпуска 0
isbn 9783955102678
Автор произведения Meinhard Saremba
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Heines Text wurde bald danach in Preußen verboten. Das Buch schildert nicht nur eine Wanderung von Paris nach Hamburg, es wurde auch in Brahms’ Geburtsort vom Verlag Hoffmann und Campe herausgegeben. Einem Mann wie Johannes Brahms, der von sich behauptete: »Ich lege all mein Geld in Büchern an, Bücher sind meine höchste Lust, ich habe von Kindesbeinen an soviel gelesen, wie ich nur konnte…«,88 wird so etwas selbst als Schuljunge nicht entgangen sein.
Mit seiner Tour präsentierte sich der junge Brahms bewusst anti-bürgerlich, denn für eine Wanderung entlang des imposanten, mythenumwobenen deutschen Flusses hatte kein Städter Zeit. Privat erwanderte niemand den Rhein damals zum Zeitvertreib – es sei denn, es war eine kulturpolitisch motivierte Erkundungstour! Die gut 240 Kilometer zwischen Mainz und Bonn größtenteils zu Fuß zurückzulegen, war seinerzeit nichts Besonderes, sofern man Arbeiter war. Brahms ließ es mit etlichen Abstechern und Besuchen ausgesprochen gemächlich angehen und benötigte etwa vier Wochen. Die Handwerksgesellen, die sich in Mitteleuropa zu Tausenden regelmäßig auf Wanderschaft begaben, legten täglich etwa 35 Kilometer zurück. In gewisser Weise näherte sich der passionierte Spaziergänger Brahms seinen Zielen mit den Gesellenstücken im Gepäck wie ein solcher Handwerker auf der Walz. Wie noch im 18. Jahrhundert war für den Verehrer von Mozart und Haydn die Musik ein Handwerk, bei dem es nur den Besten gelingen kann, unter mühevoller Arbeit hochwertige Kunstwerke herzustellen. Neben Beethoven gehörten diese beiden Komponisten auch zu den Idolen des fiktiven Kapellmeisters Johannes Kreisler, den E. T. A. Hoffmann Anfang des 19. Jahrhunderts in Werken auftreten ließ wie den zwölf »Kreisleriana« in Fantasiestücke in Callot’s Manier und einem Roman mit dem monumentalen Titel Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Den hingebungsvollen Leser Brahms mag an der Figur der gleiche Vorname angesprochen haben und dass ihr der Meister einen »Lehrbrief in den Sack« schob, den er »sämmtlichen musikalischen Gilden und Innungen als Passeport vorzeigen« konnte. Johannes Brahms und Hoffmanns fiktiver Johannes Kreisler wussten, wie es sich anfühlte, wenn man »diejenige Meisterschaft erlangt hat, welche nöthig ist, um ein schickliches gehöriges Lernen zu beginnen«: Man hatte das »Hörorgan so geschärft«, dass »bisweilen die Stimme des in Deinem Innern versteckten Poeten (um mit Schubert zu reden)« hervortrat. Diese Bemerkung bezog sich auf die 1814 in Hoffmanns Bamberger Verlag erstmals verlegte Schrift Die Symbolik des Traumes des Arztes und Pädagogen Gotthilf Heinrich von Schubert. Sie kam 1862 zwei Jahre nach dem Tod des Verfassers noch einmal heraus und gehörte zu den einflussreichsten Büchern des 19. Jahrhunderts. Noch Freud und Jung diente sie als Vorbild, insbesondere weil sie den Traum als eine Hieroglyphensprache darlegte, die es zu entschlüsseln galt. »Der Ton wohnt überall«, wird Kreisler bei Hoffmann eingeschärft, »die Töne, das heißt die Melodien, welche die höhere Sprache des Geisterreichs reden, ruhen nur in der Brust des Menschen. – Aber geht denn nicht, so wie der Geist des Tons, auch der Geist der Musik durch die ganze Natur? Der mechanisch affizirte tönende Körper spricht ins Leben geweckt sein Daseyn aus, oder vielmehr sein innerer Organismus tritt im Bewußtseyn hervor.«89 Das Geisterhafte faszinierte Robert Schumann, der nur wenige Monate darauf seinen Klavierzyklus Geistervariationen zu Papier bringen sollte. Brahms hielt sich vornehmlich an die Wahrnehmung seines Innersten und an die Natur. Erst 1861 verarbeitete er das Hauptthema Schumanns in seinen Variationen Opus 23 für Klavier zu vier Händen. In den 1850er-Jahren spukte er lieber selber irrlichternd durch seinen Bekannten- und Freundeskreis. Alle spielten noch mit, sofern es sich um literarische Scharaden handelte, beispielsweise wenn Brahms sich in Anspielung auf die etwa vierzig Jahre zuvor erschienenen Texte E. T. A. Hoffmanns in Notizen, Skizzen und Briefen nach dem skurrilen Kapellmeister Kreisler scherzhaft »der junge Kreisler«, »Johannes Kreisler junior« oder »Johannes Kreisler II.« nannte. Jeder wusste in jenen Jahren, wer gemeint war, wenn er einen Brief gelegentlich mit »Jean de Krösel le jeune« unterschrieb oder wenn Julius Otto Grimm Freunden mitteilte, »Br – Kr« sei gekommen oder »Kreisler und ich« hätten »viele herrliche Stunden mit ihr«, Clara Schumann, verbracht. Wollte Johannes mit den Anspielungen Clara imponieren und seine Belesenheit demonstrieren? Immerhin ahmte er damit eine Pose ihres Mannes Robert nach, der es sich als Gründer der Neuen Zeitschrift für Musik erlaubt hatte, widerstreitende Gedanken durch die Pseudonyme Florestan und Eusebius darzulegen. Nur wenige Monate später komponierte Johannes Variationen über ein musikalisches Thema von Schumann, von denen einige mit Namenskürzeln am Ende gekennzeichnet sind: So unterzeichnete er die Variationen 4, 7, 8, 14 und 16 mit »B« für Brahms sowie die Variationen 5, 6, 9, 12 und 13 mit »Kr« für Kreisler – die einen innig, die anderen kapriziös-kess. Johannes meinte gegenüber seinem Verleger, dass er »die Variationen für das Beste halte, was ich bis jetzt geschrieben«90 habe und ahnte gewiss, dass er Clara damit die Dialektik seines Wesens offenlegte. Sie wusste nur zu gut: Der Künstler als öffentliche Person und der Künstler als Mensch war nicht ein- und dieselbe Person. Das Verbergen der Identität hinter literarischen Namen oder Phantasiebezeichnungen war eine im 19. Jahrhundert keineswegs ungewöhnliche Praxis – Wagner publizierte als Karl Freigedank, Mary Anne Evans als George Eliot und Prosper Mérimée als Clara Gazul. Die Kreisler-Attitüde von Brahms war die verspielte Variante eines antibürgerlichen Aktionismus, der sich im 19. Jahrhundert mit der