Скачать книгу

alt="image"/>

      Es wird oft vergessen, dass die ersten schweren Erschütterungen des Systems der Willkommenskultur schon auf die Regierung Gentiloni (12/2016–6/2018) zurückgehen, ebenso wie sich in dieser Zeit die Haltung von Medien und Politik gegenüber Nichtregierungsorganisationen grundsätzlich geändert hat. Die repressive Politik gegen Riace hat also begonnen, als mit Marco Minniti ein Innenminister in der Regierung saß, der ursprünglich aus Reggio Calabria stammte und dem Partito Democratico8 angehörte.

      Im April 2017 wurde das Minniti-Orlando-Gesetz verabschiedet, das »dringende Verfügungen für die Beschleunigung der Verfahren zum internationalen Schutz sowie Maßnahmen zur Eindämmung der illegalen Einwanderung« auf den Weg brachte. Eines der Ziele war eine Verkürzung der Asylverfahren, und es kann daher auch als Generalprobe für die »Sicherheitsdekrete« des späteren Innenministers Matteo Salvini bezeichnet werden.

      Eine konkrete Folge dieses Gesetzes war etwa die deutliche Beschränkung der Möglichkeiten des Asylsuchenden, gegen die Verweigerung des Flüchtlingsstatus Einspruch zu erheben. Die dritte Instanz, und damit die Möglichkeit, gegen eine Ablehnung Revision einzulegen, wurde praktisch abgeschafft. Überdies wurde in der ersten Instanz die persönliche Anhörung durch eine Videoaufzeichnung der Befragung des Asylbewerbers vor der Territorialkommission ersetzt. Es gibt keine Möglichkeit zum Disput, und der Richter ist nicht berechtigt, dem Asylbewerber Fragen zu stellen. Das ganze Verfahren erfährt so eine Entmenschlichung, es wird kalt und bürokratisch.

      Als das Dekret in Kraft trat, hatten wir viele Gäste in Riace. Viele junge Nigerianer hatten schon zwei Ablehnungen ihres Asylantrags erhalten und verloren so die Chance auf einen weiteren Einspruch. Sie wollten aber unter allen Umständen vermeiden, in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, aus dem sie aus den unterschiedlichsten Gründen geflüchtet waren, wobei ein Grund für alle gleichermaßen galt: das allgemein menschliche Bestreben, ein besseres Leben zu finden. Einige hatten sich lebenslang verschuldet, bei Wohltätern oder solchen, die dies zu sein vorgaben, oder auch bei Verwandten und Schleppern. Sie wollten so bald wie möglich ein Stück Papier in Händen halten, das es ihnen erlauben würde, legal zu arbeiten, um ihre Schulden zurückzahlen zu können. Natürlich waren auch ein paar dabei, die heiraten wollten, um durch die Ehe mit einer Italienerin oder einem Italiener eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Ich selbst habe aber als Bürgermeister nur eine einzige Hochzeit zelebriert, auch wenn es sich heute in manchen Medien so anhört, als hätte ich eine Agentur für einsame Herzen eröffnet und Partnervermittlung im großen Stil betrieben. Die Wahrheit ist: Alles, was ich getan habe, geschah aus einem einzigen Grund, nämlich weil ich das Grauen in den Augen der Menschen gesehen habe, die fürchten mussten, in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden.

image

      Am 19. Dezember 2019, wenige Tage vor Weihnachten, wurde mir ein neuer Ermittlungsbescheid9 zugestellt. Diesmal ging es darum, dass ich zwei Menschen einen Personalausweis ausgestellt hatte, die – so jedenfalls die Staatsanwaltschaft – darauf keinen Anspruch hatten. Es handelte sich um eine Frau aus Eritrea mit ihrem Kind, die auf die wiederholte Bitte der Präfektur von Reggio Calabria im April 2016 im Aufnahmezentrum von Riace angekommen waren. Bei ihrer Ankunft war der kleine Junge erst eine Woche alt. Sie wurden in einem der Aufnahmeprojekte von Riace registriert und erhielten als Bezugsberechtigte Wohnung und soziale Leistungen. Am 8. August wurde den beiden eine Meldebescheinigung ausgestellt, da sie bereits ordnungsgemäß im Einwohnerregister Riaces verzeichnet waren. Was die Staatsanwaltschaft mir zum Vorwurf macht, ist die Tatsache, dass ich der Frau und ihrem inzwischen viermonatigen Kind im September 2016 zwei Personalausweise ausgestellt habe, obwohl sie keinen Aufenthaltstitel hatten. Der zuständige Sozialarbeiter hatte mich darum gebeten, vor allem, weil der Kleine ernsthafte gesundheitliche Probleme hatte und eine Versichertenkarte brauchte, damit er so schnell wie möglich in kinderärztliche Behandlung gebracht werden konnte. Ohne den Personalausweis hätte er aber diese Versichertenkarte nicht bekommen. Daher zögerte ich nicht, ihm den Ausweis auszustellen. Dieser Akt wird mir im Prozess als Falschbeurkundung im Amt nach Artikel 480 des Strafgesetzbuchs zum Vorwurf gemacht. Meiner Meinung nach ist das ein juristisches »Missverständnis«, das in offensichtlichem Kontrast steht zu den Prinzipien unserer Verfassung und zu den Menschenrechten.

      Um solche Gesten der Menschlichkeit noch weiter zu erschweren, unternahm das von Innenminister Matteo Salvini initiierte »Sicherheitsdekret«,10 das im Oktober 2018 in Kraft trat, den Versuch, die Eintragung von Asylbewerbern ins Melderegister abzuschaffen, obwohl diese für manche Leistungen unerlässlich war. Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, erhob laut seine Stimme gegen dieses schändliche Dekret und fuhr demonstrativ – und teils eigenhändig – fort, Asylsuchende in das Register seiner Stadt einzuschreiben, um ihre Menschenwürde zu schützen und ihnen weiterhin den Zugang zu lebensnotwendigen Dienstleistungen zu gewähren.

      Jenseits der moralischen Verpflichtung, die uns zwingt, die Menschenrechte zu wahren, ist das Recht auf Gesundheit auch in Artikel 32 der italienischen Verfassung als primär, absolut und unverletzlich bezeichnet. Der Personalausweis war im vorliegenden Fall eine gesundheitliche Notwendigkeit, zumal für ein viermonatiges Kind. Ein Mensch, ein Kind, hätte ohne dieses Dokument sterben können. Alles andere ist sekundär, fast irrelevant.

image

      Die tragische Geschichte von Becky Moses und die einer Mutter mit ihrem kranken Kind haben vieles gemeinsam: eine dramatische Flucht, den sehnsüchtigen Wunsch nach einem Neuanfang, eine zermürbende Reise durch die Wüste, mit all den Gefahren und Qualen, denen insbesondere Frauen auf einem solchen Weg ausgeliefert sind. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass beide Frauen im Besitz eines Personalausweises waren, der von mir als Bürgermeister ausgestellt worden war. Auch Becky Moses war zwar im Melderegister von Riace eingetragen, hatte aber keine Aufenthaltserlaubnis, sondern nur eine Meldebescheinigung.

      Ich habe mir daher die Frage gestellt, warum man mich wegen des Ausweises für die Frau aus Eritrea und ihrem Kind juristisch belangt hat, wegen des anderen für Becky aber nicht. Ich habe darauf nur eine Antwort gefunden: Weil Becky tot ist. Weil ihre Geschichte, ihr Dokument in Zusammenhang mit einer Tragödie steht. Wenn es in San Ferdinando ein Sicherheitsdefizit gab, dann fällt das in den Verantwortungsbereich der Präfektur von Reggio Calabria, der dieses Hoheitsgebiet untersteht, und sie muss folglich befürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Von 9/2015 bis 9/2018 war Michele Di Bari als »Außerordentlicher Regierungskommissar« für die Überwindung des stetigen Niedergangs und der unhaltbaren Zustände in San Ferdinando zuständig. Im Mai 2019 hat er sein Amt als Präfekt von Kalabrien aufgegeben und wurde von Innenminister Salvini zum Abteilungschef für das Einwanderungsressort im Innenministerium nach Rom berufen. Di Bari hat bei der Initiierung des gerichtlichen Verfahrens gegen mich und bei der Delegitimierung des Modells Riace eine entscheidende Rolle gespielt.

image

      Ich habe Becky Moses, die als Asylbewerberin endgültig abgelehnt war, einen Personalausweis ausgestellt, damit sie einen Namen hätte unter den Namenlosen in den Plastikzelten und Wellblechhütten von San Ferdinando, wo sie sich vor den italienischen Behörden verstecken musste. Einem Ort der Schande und der Unmenschlichkeit, der doch den Namen des Staates trägt. Warum aber habe ich für diesen Ausweis keine Strafanzeige erhalten, wie für die anderen beiden? Vielleicht weil man Beckys Geschichte gerne für immer tief in der Erde vergraben möchte?

      Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage von entscheidender Bedeutung ist, nicht nur für mich, um Klarheit in das Labyrinth zu bringen, dem ich persönlich durch die Kriminalisierung meiner Person ausgeliefert bin. Aber viel mehr noch, um zu verstehen, welche Welt wir dabei sind zu errichten und auf welcher Seite wir darin stehen wollen.

      Die italienische Linke hat, als sie im September 2019 an die Regierung kam, keine klare Haltung zu Salvinis Sicherheitsdekreten gefunden.11 Wenn sie das nicht nachholt, ist ihr Vertretungsanspruch gescheitert. Wie kann sie den neuen Proletariern, den durch die Welt irrenden Bürgern, den Unsichtbaren von gestern und heute eine

Скачать книгу