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wie in Libyen gefoltert. Schiffe der privaten Seenotrettung irren durchs Mittelmeer und suchen vergeblich nach Häfen, humanitäre Organisationen werden schikaniert, Abschiebungen in tödlich gefährliche Länder durchgezogen, auf Biegen und Brechen. Auf den italienischen Tomatenfeldern schuften »Erntesklaven« unter Bedingungen, die einem anderen Jahrhundert anzugehören scheinen. Und die, die es etwa nach Deutschland schaffen, werden über Jahre hinweg in quälender Perspektivlosigkeit gehalten und von einer Bürokratie erdrückt, deren höchstes Ziel nichts anderes zu sein scheint, als die Menschen »draußen« zu halten.

      Ich bin im Winter 2020, kurz vor Corona, mit einer Gruppe interessierter Menschen nach Riace gereist. Seit mehreren Jahren war ich schon in München als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin aktiv, und Riace war in unseren Kreisen seit Langem ein Begriff. Mein Ehrenamt hatte mich in den Jahren zuvor nachhaltig verstört, denn ich hatte nicht damit gerechnet, wie hart und teils willkürlich das deutsche Asylsystem agiert. Ich hatte Anhörungen und die daraufhin erfolgenden Entscheidungen mitverfolgt und darüber den Glauben an faire Asylverfahren verloren, hatte die »Vergrämungsstrategien« der Behörden aus unmittelbarer Anschauung kennengelernt, hatte erfahren, was Worte wie »politischer Wille« oder »systemischer Rassismus« in der Praxis bedeuten. Das Land, in dem ich vor 2015 gelebt zu haben glaubte, war nicht das, das ich in den Jahren darauf vorfand. Was ich erlebte, war nicht anständig, es war nicht menschenfreundlich, es war keineswegs durch ein gesundes Fundament von unverbrüchlichen Werten unterlegt. Es war nicht einmal vernünftig, der gesunde Menschenverstand spielte darin keine Rolle. Stattdessen gaben die »großen As« in diesem System den Ton an: Abschottung, Abschiebung, Arbeitsverbote.

      Über alle Widerstände hinweg – oder vielleicht gerade deswegen – ist in Deutschland aus der kurzen Phase der »Willkommenskultur« (ein mediengemachter Begriff, der eigentlich nie einen Inhalt hatte) trotz allem eine spannende Bewegung geworden. Freundschaften entstanden, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, nicht nur zwischen den Helfern, sondern auch zwischen »Alt- und Neubürgern«. Viele Engagierte politisierten sich, schlossen sich zusammen, fruchtbare Synergien entstanden. Wir organisierten Proteste und Debatten, setzten uns mit Behörden, Medien und Politik auseinander, bildeten uns im Asyl- und Ausländerrecht weiter. Ich war beeindruckt, wie viel Wissen, Know-how und Ideenreichtum in diesem menschlichen Sammelsurium vorhanden war. Und wenn auch die meisten von uns heute ausgebrannt und über die immer weiteren Verschärfungen verzweifelt sind, so hatte ich wenigstens das Glück, Menschen kennenzulernen, deren Mut, Zähigkeit und Ausdauer ich bis heute aufrichtig bewundere. Sie sind für mich das »bessere Deutschland«, die Vertreter einer »Utopie der Normalität«, in der ich gerne gelebt hätte. Allein: Die Zeit schlug eine andere Richtung ein als die, in die wir gemeinsam gehen wollten.

      Die Ideen hinter Riace, dem Dorf des Willkommens, tragen Züge, die unseren europäischen Werten bestens entsprechen. Sie bieten Anregungen und Impulse, wie mit der »Flüchtlingskrise«, die aller Voraussicht nach erst begonnen hat, anders umgegangen werden könnte. Ein wichtiger Aspekt ist die dezentrale Unterbringung, auf die Lucano immer wieder verweist, und die etwa in Bayerns »Ankerzentren« so konsequent vermieden wird. Ein weiterer ist die Teilhabe der Neubürger an der Gesellschaft, das »Mittendrin«, das man durch den jahrelangen Schwebezustand der Asylverfahren und die Segregierung der Neuankömmlinge von der Mehrheitsbevölkerung erfolgreich verhindert. Ebenso wie durch die absurden Arbeitsverbote, die es Menschen unmöglich machen, zu Protagonisten ihres Lebens zu werden und ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft zu leisten. Oft steht am Ende eines jahrelangen, zermürbenden Prozesses nichts anderes als die Abschiebung, ganz egal, wie sehr sich jemand angestrengt hat, in der neuen Heimat anzukommen. Wer es schafft und wer nicht ist großteils durch Willkür bestimmt, auch wenn die große Politik uns in ihren Statements etwas anderes erzählen möchte.

      Als Übersetzerin hielt ich es für sinnvoll und sogar notwendig, Lucanos Buch auch interessierten deutschen Lesern zugänglich zu machen. Riace ist ein kleines Dorf, und manches, was hier erzählt wird, mag regional und für uns nicht relevant anmuten. Schon für Norditaliener liegt Kalabrien fast am Ende der Welt. Doch wie auch Giovanna Procacci in ihrem Nachwort klarmacht, ist die Geschichte, die sich hier zugetragen hat und noch zuträgt, eine von internationaler Bedeutung. Sie erzählt etwas über unsere Zeit und die Gefahren, die uns unmittelbar drohen. In ganz Europa sind immer weitere Gesetzesverschärfungen an der Tagesordnung, Solidarität und Menschenrechte scheinen zunehmend Ideen zu werden, die einem schöneren Gestern angehören. Es gibt keinen allgemeinen Aufschrei, die Medien berichten kaum noch, man nimmt das Unsagbare wie den Tod der Menschen im Mittelmeer hin. Vielleicht auch, weil wir alle heillos überfordert sind mit dem Chaos, das uns umgibt.

      Die Frage, die sich mir und vielen anderen Menschen stellt, ist: Wie wollen wir in Zukunft leben? Was ist uns wichtig, was brauchen wir, um als Einzelne und als Gesellschaft unsere Seele nicht zu verlieren? »Die Lösung könnte in einer ›Revolution der Normalität‹ liegen, dem Erleben eines friedlichen Miteinanders, wie wir es in Riace in die Tat umgesetzt haben«, schreibt Mimmo Lucano. Wäre es wirklich so revolutionär, wenn er recht hätte?

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      Es ist noch eine Bemerkung zu machen zu der besonderen Sprache Domenico Lucanos, die im Deutschen oft nur schwer wiederzugeben ist. Eine Sprache, die natürlich süditalienisch ist, oft pathetisch, archaisch und sehr radikal, und die man im Deutschen versucht ist, in eine uns eher entsprechende zurückgenommene Neutralität und Nüchternheit zu überführen. Letztendlich habe ich mich aber dagegen entschieden und manchen vielleicht sonderbar klingenden Satz so gelassen, wie er ist. Es schien mir, dass gerade die politischen Statements – und um diese geht es vor allem – ansonsten an Kraft verlieren, und das wollte ich in jedem Fall verhindern. Es ist eine Sprache, die man sich oft gesprochen vorstellen muss, und wer Lucano reden gehört hat, muss vielleicht gar kein Italienisch können, um ein bisschen zu verstehen, was er meint. Wer noch dazu in Riace war – egal ob es nun gerade verlassen ist oder die Welt hier zusammenfindet – und ehrfurchtsvoll vor der kargen, wilden und großen kalabrischen Landschaft stand, der erkennt, dass zu diesem Land eigentlich nur diese Sprache passt. Es ist dann auch eine Selbstverständlichkeit, dass »sogar die Ziegen hier in Kontemplation« sind.

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      Unmittelbar bevor dieses Buch in Druck ging, wurde am 30. September 2021 vom Gericht Locri das erstinstanzliche Urteil im Prozess gegen Domenico Lucano und Riace verkündet. Lucano wurde unter anderem wegen Amtsmissbrauch und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu 13 Jahren und 2 Monaten Haft, 5 Jahre Verbot, ein öffentliches Amt auszuüben, und der Rückzahlung einer Summe von über 700 000 Euro verurteilt. Auch viele seiner Mitstreiter wurden verurteilt. Strafmildernde Umstände wurden nicht berücksichtigt, auch nicht, dass sein Handeln eine moralische Zielsetzung hatte. Das Urteil hat in ganz Italien großes Aufsehen erregt, es gab Proteste, aber auch Zustimmung. Die ausführliche Urteilsbegründung steht noch aus. Lucanos Anwälte haben angekündigt, in Berufung zu gehen.

PREFAZIONE

      Am Anfang kamen immer dieselben Fragen: Und wenn sie am Ende mehr werden als die Einheimischen? Und wenn Kriminelle dabei sind? In der öffentlichen Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen in Riace waren das die üblichen Probleme. Dabei müsste eigentlich etwas ganz anderes im Mittelpunkt stehen: Politik kann sich nicht reduzieren auf die Selektion, wer hereindarf und wer nicht, oder sie verzichtet auf das, was sie eigentlich sein will. Sie verzichtet auf die Sache der Freiheit, die sie einst instituiert hat. Eines hat mich die Erfahrung gelehrt: Eine Politik, die sich in reiner Machtausübung erschöpft, vergisst den Traum von der kollektiven Emanzipation, zu dem unser Recht auf Freiheit uns anspornt.

      Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt erschüttert und Gesundheitswesen und Wirtschaft in eine beispiellose Krise gestürzt. Sie hat uns in die Grenzen unserer nächsten Umgebung gezwungen. Wir sitzen in unseren Häusern und stellen fest, dass wir uns dort nicht so sicher fühlen, wie wir gedacht haben. Ohne die Gemeinschaft um uns herum sind wir uns selber fremd.

      Krankheit und Tod lassen wenig Raum für allgemeine Betrachtungen, doch wir haben die Pflicht zu einer tieferen Reflexion. Wir müssen einen Blick in die Vergangenheit

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