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DDR, früheren und jetzigen Entbehrungen und empfundenen Ungerechtigkeiten und der Hoffnung, dass er dieses Land nach der Wende zurückbekäme. Ich erahnte, dass er stellvertretend in den ganzen Prozessen wie ein Rächer für »sein« verlorenes Land kämpfte. Er hatte in den letzten zehn Jahren seine ganze Arbeitskraft in diese Prozesse hineingesteckt, war darüber arbeitslos und noch ärmer geworden. Dennoch kämpfte er weiter gegen die Mühlen der Bürokratien und das ihm vermeintlich zugefügte Unrecht mit einer Mordswut – diesem Gefühl, das ich so hautnah an mir erlebt hatte. Ich wusste nun, woher es kam. Es gehörte zu der Geschichte des Klienten und ich konnte es mit Mitgefühl und in Respekt für sein erlebtes Leid bei ihm lassen. Das hat gereicht, um in der weiteren Behandlung bei seinem immer wieder mal einfließenden »Wissen Sie, Frau Doktor« keine aggressiven Affekte mehr zu haben. Ich konnte nun meine eigene Resonanz spüren und ihm ohne Worte ein verständnisvolles »Ja, jetzt weiß ich etwas von Ihrer Geschichte« in den Raum zustellen. Die weitere Behandlung gestaltete sich ohne Gefühlsstürme meinerseits und ohne Verwicklungen und Komplikationen.

      Ein wichtiger zu erwähnender Sonderfall von Gegenübertragung ist die Projektive Identifikation. Hier identifiziert sich der Behandler unbewusst mit Menschen und deren meist schrecklichen Verhaltensweisen aus der Vergangenheit des Klienten, die diesem schwer geschadet haben, und agiert diese Verhaltensweisen unbewusst am Klienten aus. Häufig zu finden sind solche Beispiele bei Menschen mit Suchterkrankungen oder auch bei Traumatisierten, bei denen die Behandelnden unbewusst den Teil des Gefühlsszenarios aus der Kindheit der Klienten in Ansätzen ausagieren, der durch Gewalt, Erniedrigung, Missbrauch aller Art sowie Gefühlsausbrüche der Täter geprägt ist. Sie »erleben« diese Gefühle dann als Resonanz in teils erschreckenden und für sie nicht üblichen Ausbrüchen und agieren derbe Entwertungen am Klienten aus. Diese Gefahr sollte natürlich so früh wie möglich erkannt und gebannt werden. Ein Ausagieren dieser Gefühle schädigt Klienten in besonders dramatischer Weise, wenn sie zuvor Vertrauen zu den Behandelnden gefasst haben. Es ist für die Begegnung und für die Therapie von großer Wichtigkeit, solche Gefühle in sich zu erkennen und nicht zu verdrängen. Sie offenbaren einen Teil der Geschichte dieses Patienten, und es kann daran gearbeitet werden, aber eben ohne sie auszuagieren.

      Atmosphären

      Atmosphäre ist physikalisch eine Lufthülle der Erde, im übertragenen Sinne die Luft, die wir atmen, das Fluidum, das Medium, das die Stimmung der Umwelt vermittelt. Atmosphäre umgibt uns ständig und überall, ist von Sinnesempfindungen, Gefühlen und Erleben durchwirkt, von Bewusstem und Unbewusstem. Atmosphäre ist nichts Statisches. Sie ist nicht beobachtbar, nur wahrnehmbar. Sie ist spürbar, nicht greifbar, oft schwer zu beschreiben. Dennoch wirkt sie auf alle Sinneskanäle eines jeden Menschen je nach Prädisposition und Empfänglichkeit und bereitet ein Feld. Atmosphären, Erlebtes, Szenen, Erinnerungen sind kognitiv, sensomotorisch und emotional im Kopf-Gedächtnis und Leib-Gedächtnis repräsentiert.

      Jeder Mensch strahlt Atmosphären aus. Das unbewusste Fluidum, das ein Mensch verbreitet, ist atmosphärisch spürbar. Wenn sich zwei oder mehrere Menschen begegnen, treffen sich ihre Atmosphären, ob sie das wollen oder nicht, sie vermischen sich ohne unser Zutun. Wir sprechen davon, dass die Chemie stimmt oder eben nicht. Atmosphäre kann als anthropologische Synergie betrachtet werden, so Hilarion Petzold. ­Atmosphären sind auch das unbewusste spürbare Feld des intrapsychischen und/oder des interpersonellen Verwoben-Seins.

      Eine Schulung der Wahrnehmung bezüglich Atmosphären und der aktive Umgang mit ihnen ist bei der Arbeit mit Menschen ungeheuer nutzbringend und hilfreich bei Diagnostik, Therapie und Professioneller Selbstfürsorge. Zudem ist sie eine enorme Bereicherung der Sinne und des Erlebens. Bei dem Phänomen der Gegenübertragung spielen Atmosphären eine zu beachtende Rolle.

      Die Ausstrahlung der Behandler*innen und der Klient*innen, die Inhalte und die Art und Weise, wie kommuniziert wird, bestimmen maßgeblich die Atmosphäre, in der ein Gespräch stattfindet. Und sie haben eine Auswirkung auf die Beteiligten. Jeder Mensch reagiert auf diese szenischen, nonverbalen und nur über die Sinne erlebbaren Atmosphären. Man denke nur an den Geruch in einer Zahnarztpraxis oder das aromatische Ambiente in einem Kaffeehaus, wiederum mit meist unbewussten physiologischen und emotionalen Folgen. So können Atmosphären erinnern im angenehmen oder triggern im traumatischen Sinn. Wenn ich zu meinem Gegenüber freundlich und offen eingestellt bin und dies atmosphärisch spürbar wird, kann in ihm eine andere Reaktion erwachsen, als wenn ich ihn abwertend betrachte oder eine negative Meinung über ihn habe.

      Ein kleines Beispiel, wie verinnerlichte erlebte Szenen atmosphärisch triggern können: Eine Klientin war verzweifelt darüber, dass sie und ihr Freund sich immer, wenn sie in einem bestimmten Restaurant waren, so existenziell stritten, dass sie ihre Beziehung infrage stellten. Sie saßen immer an ihrem Stammplatz und nahmen auch immer bestimmte Plätze bei Tisch ein. Bei der Bearbeitung dieses Problems stellte sich heraus, dass die Klientin (K) sich in ihrer Herkunftsfamilie zehn Jahre lang jeden Tag beim Essen mit dem Vater aufs Heftigste gestritten hatte. Die Sitzposition am Esstisch war damals dieselbe wie jetzt mit ihrem Partner (P) in dem Restaurant. Die Klientin hatte unbewusst die explosive ­Tischatmosphäre mit ihrem Vater auf den Freund übertragen. Das Problem mit dem Vater konnte in der Therapie bearbeitet werden. Bei den nächsten Restaurantbesuchen wählten sie eine andere Sitzordnung und der Abend verlief harmonisch. Beide waren sehr erleichtert, dass sie fortan in Ruhe miteinander essen gehen konnten.

      Empathie und Zuversicht sind die beiden wirkstärksten Faktoren in der erfolgreichen Behandlung eines Menschen. Sie werden vor allem durch die atmosphärische Haltung und Ausstrahlung, die vorwiegend nonverbal ausgedrückt werden, vermittelt. Ist die verbale Kommunikation mit der nonverbalen in Gestik, Mimik, Haltung, Ausdruck etc. kongruent, werden die Klient*innen und Patient*innen diese Empathie und Zuversicht verstärkt in sich erleben können. (Zur Erinnerung: Von der nonverbalen Kommunikation kommen 50–70 Prozent beim Gegenüber an, von der verbalen Kommunikation 30–50 Prozent.) Sie werden darauf mit einer anderen Haltung und Gestimmtheit reagieren, als wenn sie bewertend oder aus einem Persönlichkeitsanteil der Behandler*innen betrachtet werden.

      Zur Atmosphäre und zum Klima in einer Praxis oder einem sonstigen Arbeitsumfeld tragen die dort tätigen Menschen mit ihren Grundstimmungen und momentanen Befindlichkeiten ebenso bei wie ihr Verhältnis untereinander. Auch die Patient*innen und Klient*innen, die an diesem Tag in die Praxis kommen, haben durch ihre Gestimmtheit Einfluss auf die Atmosphäre, zum Beispiel im Wartezimmer. Und auch das äußere Ambiente, die Gestaltung der Räumlichkeiten, die Farben und Formen, die Geräusche und Gerüche, alles wirkt auf die Sinne und prägt die Atmosphäre mit.

      Offene, subjektive, geschulte Wahrnehmung

      Schon Erich Fromm sah im Menschen die Fähigkeit zur subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung, die er außer der Fähigkeit besitzt, die Realität so zu beurteilen, dass sie für ihn lebbar ist. Er betont unterschiedliche Wahrnehmungsresultate durch verschiedene Sichtweisen für ein So-Sein-Müssen oder ein Da-Sein-Dürfen. Schaut er einen Menschen nach bestimmten Kriterien, Stärken, Schwächen, Zielsetzungen oder nach »Gebrauchswert« an (So-Sein), dann entsteht ein funktionalistischer Kontakt. (Im IIFS aus einer Teile-Perspektive). Vermag er den Menschen mit Aufmerksamkeit und Respekt, mit Lust und unter Registrierung seiner Gefühle zu sehen als der, der er ist (Da-Sein), erlaubt »die Fähigkeit zu dieser Art von Wirklichkeitswahrnehmung«, den anderen in seinen tiefsten Wurzeln und in seinem ganzen Wesen zu erkennen. (Diese Beschreibung hört sich im IIFS nach SELBST an). Dazu muss er präsent sein und die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung haben, was eine Voraussetzung für ein sich Einfühlen in den anderen ist.

      Diese Erkenntnis hatte er viele Jahrzehnte, bevor Daniel Siegel die faszinierende Welt der psychotherapeutischen Neurobiologie den interessierten Kolleg*innen näherbrachte und, neurophysiologisch begründet, für eine innere Ausbildung der Kunst der Achtsamkeit, der Präsenz, Offenheit und Selbstwahrnehmung, der Einfühlung in sich selbst und die anderer Menschen warb. Aus u. a. diesen therapeutischen Qualitäten heraus, die sehr den SELBST-Qualitäten im IIFS entsprechen, resultieren Erfolge in Therapien.

      Wenn die subjektive Wirklichkeitswahrnehmung selbst bei einem Menschen unter verschiedenen Vorzeichen unterschiedlich ausfallen kann, was geschieht dann,

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