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zu verschaffen und um Ich und Du schön auseinanderzuhalten und nicht unzulässigerweise zu vermischen, hat Hildegund Heinl, die »Grande Dame« der Integrativen Gestalttherapie, einen Prozess des Oszillierens beschrieben, wie jeder auf den unterschiedlichsten Ebenen gleichzeitig bei sich selbst und beim anderen sein kann – auf allen Ebenen, im Hier und Jetzt, in der Vergangenheit, und wieder zurück in der Gegenwart. Diese Übung kann in Seminaren zu einer außerordentlichen Selbsterfahrung führen und auch im Kontakt zu anderen Menschen eine Fülle von Erfahrungen und Nutzen bringen. Haben beide Partner*innen dieser Übung eine Haltung von Wertschätzung und Respekt sich selbst und dem anderen gegenüber und versuchen, sie nicht zu bewerten, kann tiefes eigenes und gegenseitiges Erleben die Folge sein. Für manche ist diese Übung am Anfang schon nach ein paar Minuten sehr dicht. Geübtere oszillieren mehrfach hin und her und erfahren so zum Beispiel in einer Stunde wirklich viel über sich und ihr Gegenüber, wenn sie darüber reflektieren und sich zusätzlich noch über das Erlebte austauschen. Eine solche Wahrnehmung seiner selbst und der anderen wird der Komplexität eines jeden Menschen gerechter, es kann dadurch erlebter Kontakt und Begegnung entstehen. Zwei Personen haben so die Möglichkeit, sich nicht ungewollt zu »verwurschteln«. Anders, wenn von Anfang an klar ist: Jeder hat seinen eigenen persönlichen, familiären, kulturellen, zeitgeschichtlichen Hintergrund und ist geprägt von seiner Geschichte. Ich bin ich und du bist du, frei nach Martin Buber: Das Ich erfährt sich am Du.

       Übung

      Bei der Übung des Oszillierens geht es darum, zentriert bei sich im Hier und Jetzt zu sein. Es geht darum, in sich hinein zu spüren und sich zu fragen: Was nehme ich bei mir gerade wahr, während ich mit einer anderen Person im Kontakt bin.

      IM HIER UND JETZT:

       Was fühle ich?

       Was denke ich?

       Was empfinde ich?

       Welche Körperempfindungen spüre ich?

       Was tut mein Körper?

       Was tue ich gerade?

       Was signalisiere ich?

       Was brauche ich?

      Dann sinne ich nach:

       Woher mag das kommen?

       Wohin gehört das?

       In welche Szene?

       In welche Zeit?

      Wenn es in eine alte Szene gehört, frage ich mich weiter:

       Was fühle ich von damals?

       Was denke ich von damals, wenn ich …

       Was empfinde ich dabei?

       Wie geht/ging es meinem Körper?

       Was signalisiere(t) ich(er) noch?

       Was hätte ich/mein Körper gebraucht?

      Ich übernehme die Verantwortung für all das, was im Moment bei mir im Inneren los und meiner Wahrnehmung zugänglich ist. Ich mache mir bewusst:

       Ich bin ich, mit alledem in mir.

       Ich habe Respekt, Wertschätzung und Annahme dafür.

       Ich habe meine Grenzen und achte sie.

       Und du bist du, mit alledem in dir.

       Ich habe Respekt, Wertschätzung und Annahme dafür bei dir.

       Und du hast deine Grenzen und ich achte sie.

      Wenn ich bei mir bin und gleichzeitig im Kontakt mit einer anderen Person, ist es unabdingbar, meine und ihre Grenzen im Innen und im Außen zu erspüren und zu respektieren Wo fange ich an, wo höre ich auf? Wo fängt der andere an und wo hört er auf? Mein Fokus richtet sich nun mehr auf mein Gegenüber. Was nehme ich beim anderen wahr?

      Was sehe ich, was höre ich, was rieche ich, was fühle ich?

      Was denke ich über die andere Person?

      Was empfinde ich für sie?

      Wie erlebe ich sie?

      Was tut mein Körper gerade in Bezug auf sie?

      Was für Fantasien habe ich über sie?

      Was tue ich gerade in Bezug auf sie?

      Was signalisiere ich gerade in Bezug auf sie?

      Was projiziere ich auf sie?

      Und wieder zurück mit dem Fokus zu mir selbst, in dem Wissen, dass alles, was ich wahrgenommen habe, vor dem Hintergrund meines Lebens situativ, subjektiv und selektiv bleibt, aber mir nun bewusster ist, weniger verstrickt mit mir. Diese klaren Grenzen tun gut.

      Hildegund Heinl benannte diese Bewegung auf den Beziehungsebenen vom Ich von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück ins Hier und Jetzt zum Du und wieder zu sich selbst als ein »Hoch und Runterklettern der Sprossenleiter des Lebens und der Gefühle«.

      Es braucht Übung – und ehrlicherweise ganz schön viel Übung, aber es lohnt sich ungemein, schnell den Fokus wechseln zu können zwischen Ich und Du und wieder Ich, bis das irgendwann parallel läuft – bei sich zu sein und gleichzeitig beim anderen, ohne uns zu vermischen. Auf diese Weise, gleichzeitig abgegrenzt und nahe, spüren wir uns und den anderen intensiv. Wir werden uns und auch unserem Gegenüber gerechter, haben die Möglichkeit, mehr Verantwortung für uns selbst zu übernehmen, und dem Anderen seine Verantwortung auch zu belassen und sie ihm nicht wegzunehmen. Diese Art von Kontakt und Begegnung ist authentisch, jedes Mal neu und spannend, und berücksichtigt viele Ebenen. Ein tiefes Kennenlernen meiner selbst und meines Gegenübers ist auf diese Weise möglich. Wir hören auf, für andere zu denken, zu fühlen und zu handeln. Unser Gegenüber behält seine Hoheit und seine Würde. Wenn wir mit ihm denken, fühlen, handeln, wenn es dies möchte, kann eine ganz andere Beziehung entstehen, als wenn wir das für es tun. Besonders in therapeutischen Berufen sollte diese Art von Selbstverantwortlichkeit ausführlich geübt werden, da wir uns sonst die Arbeit unnötig schwerer und anstrengender machen. Indem wir scheinbar gut gemeint Verantwortung für jemanden übernehmen, können wir ihm auch etwas Wichtiges wegnehmen. Und übrigens auch im privaten Alltag lebt es sich mit diesen guten Grenzen von Ich und Du vortrefflich.

      Wenn wir uns auf dieser Grundlage dann noch gewahr werden, dass jedes System von Ich und Du aus jeweils einem SELBST und einer Fülle von Persönlichkeitsanteilen bestehen, kann es nur noch spannender werden!

      Metaebene

      Die introspektive Wahrnehmung übt innere Achtsamkeit. Sie ist in der Lage, die Ebenen zu wechseln. Sie ist Voraussetzung zur Selbstreflexion, den eigenen Resonanzboden zu erkennen, das innere Instrumentarium zu nutzen und Verantwortung für sich und sein Innenleben zu übernehmen. Aus dem Blickwinkel der Metaebene, einer anderen, neuen, weiteren oder engeren Perspektive, verändern sich die Wahrnehmungen, die Beobachtungen und Sichtweisen, aber auch die Gefühle, Empfindungen, Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen. Mit der Art dieser Wahrnehmung eröffnet sich ein weites Feld im Kontakt zum eigenen Innenleben, zu anderen und im Kontakt miteinander. Es ist der Unterschied einer subjekt- oder einer objektbezogenen Sichtweise, zwischen assoziativer und dissoziativer Betrachtung, ob ich in mir kreise oder mich mit etwas Abstand wahrnehmen kann. Sich selbst unter verschiedenen Blickwinkeln wahrnehmen zu können, schafft die Voraussetzung, sich in unterschiedliche Seins-Zustände bei sich selbst und bei anderen hineinzuversetzen. Es ist eine Voraussetzung für Empathie mit sich selbst (Selbstmitgefühl) und für andere, und damit auch eine Bedingung für emotionale und psychosoziale Kompetenz.

      Ich möchte das folgende Beispiel als Metapher verstanden wissen. Es macht einen Unterschied, ob ich als Schauspieler*in in einer bestimmten Rolle auf der Bühne stehe

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