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Zweifel und Mut

       zwei notwendige Seelenkräfte

      In dieser Entwicklung vom 35. zum 42. und dann vom Wendepunkt des 42. zum 49. Lebensjahr sind zwei Seelenkräfte notwendig, deren Durchleben und Beherrschung für jeden modernen Menschen unabdingbar sind. Gemeint sind der der Bewusstseinsseele entspringende Zweifel und der aus der Kraft des Geistselbst strömende Mut.

       Abstraktion

      Seit das Ich in der Evolution ab dem Anfang des 15. Jahrhunderts n.Chr. die Bewusstseinsseele bildet, indem es in die Tiefen der Naturreiche, der Stoffe und ihrer Gesetzmäßigkeiten stieg, entstand auch die Naturwissenschaft. Sie, die zunächst in ihren Ursprüngen noch vom Durchdrungensein geistiger, schöpferischer Kräfte getragen war, wurde erst etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr von dem philosophischen Materialismus erfasst und schließlich in eine totale Abstraktion getrieben, in der an die Stelle schöpferischer, geistiger Kräfte eine Art »Deus ex machina« gestellt wurde.

      Diese Geist- oder Gottlosigkeit unserer Zeit ist nun aber gerade das vorhin aus einer anderen Perspektive beschriebene Nadelöhr, durch welches der Mensch nun einen freien Zugang zu den Wirklichkeiten finden wird, die in das Metaphysische verwiesen wurden. So merkwürdig dieser Gedanke vielleicht auch frommen oder gemütvollen Menschen erscheinen mag, so ist der Zweifel des modernen Naturwissenschaftlers die Voraussetzung, als eine auf sich gegründete, freie Persönlichkeit den Weg zum Geist oder zu Gott zu finden. Wenn auch dieses Wort »Zweifel« heute überwiegend als negative Eigenschaft erlebt wird, so ist sie doch eine ganz positive, treibende Kraft unserer Zeit, ohne die eine moderne Naturwissenschaft gar nicht existieren würde.

       Zweifel als Motor unserer Zeit

      Auch im Sozialen sind alle Veränderungen nur dadurch entstanden, dass die Tradition, die traditionelle Überlieferung vom Zweifel befragt und mehr und mehr über Bord geworfen wurde. Heute bildet jeder Mensch eine Welt für sich, scheint das Genom unser schöpferisches Prinzip zu sein, hat vermeintlich Meister Zufall als Urknall diese wunderbare Schöpfung, die wir unsere Welt nennen, entstehen lassen. Descartes’ Satz »Ich denke, also bin ich« lautet für unsere Zeit »Ich zweifle, also bin ich«. Der alles, wirklich alles infrage stellende Zweifel ist der Motor unserer Zeit und ein erstaunlich dominantes Wort das »Aber«. Wird der Zweifel zum Beherrscher des Menschen, sein tiefster Trieb, kann daraus rasch Verzweiflung werden (siehe Seite 61 f.). Die Gegenkraft, die den Zweifel auf sein notwendiges Maß begrenzt, die ein seelisches Gleichgewicht erzeugt, ist der Mut.

       Zivilcourage

      Der Mut ist ein sehr spezifisches Element in unserer Seele, das sich ganz mit unserem Ich verbindet und aus dem Geistselbst stammt. Mut ist also eine geistige Eigenschaft, die in die Bewusstseinsseele hineinwirkt. Der Mut durchzieht unser ganzes Leben, er findet Ausgestaltungen in jugendlichem Übermut oder erwachsenem Hochmut, im Älterwerden aber auch in der Demut.

      In dem jetzt beschriebenen Lebensabschnitt hat der Mut die Besonderheit, dem Menschen zu helfen, Entscheidungen zu treffen und sich für sie verantwortlich zu machen. Man nennt das auch »Zivilcourage«, und genau so lautet der Titel eines Buches des jungen Senators John F. Kennedy, in welchem er Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte darstellt, deren mutvolle Entscheidungen fruchtbar für die amerikanische Gesellschaft wurden. Das Besondere jeder wirklichen Entscheidung liegt darin begründet, dass ihr Ausgang, ihre Auswirkungen im Moment der Entscheidung immer ungewiss sind. Und dass sie sich immer mit persönlicher Verantwortung verknüpft. Ist es nicht bezeichnend für unsere Zeit, dass immer seltener wirkliche Entscheidungsträger erlebbar werden und dass immer häufiger eine mit der Entscheidung eingegangene Verantwortung nicht übernommen wird? Mut betrifft unsere Handlungsebene, die Sphäre unseres Willens, in welcher Rudolf Steiner den Quell alles Moralischen sah.

      Dem Entscheidungsmut verbindet sich ein Erkenntnismut, der in unserem Denken wurzelt. Den wohl größten Mut erfordert ehrliche Selbsterkenntnis, die uns immer an einen Abgrund führt. Der moderne Mensch hat eine geniale Technik entwickelt, sich einen Umhang schönster Illusion anzulegen, aus der auch alles entschuld- und erklärbar wird, was nicht so schön ist oder nicht gelingt. Zugleich entwickelt er ein Talent, die anderen äußerst kritisch zu betrachten und jede ihrer Schwächen und Unzulänglichkeiten in scharfer Kontur zu sehen und gerne auch anzusprechen. Auch dafür finden wir ein Bild in den Evangelien vom Splitter im Auge des anderen, wobei wir den Balken im eigenen gerne übersehen (Matthäus 7,3–5).

       Selbsterkenntnis

      Die Inschrift am Apollotempel im griechischen Delphi »Mensch, erkenne dich selbst« reicht hinüber in unsere Zeit und ist ein Motiv des 7. Lebensjahrsiebts. Selbsterkenntnis kann und darf viel früher einsetzen, doch die entwicklungsgesetzliche Zeit ihrer Aneignung ist der Lebensabschnitt vom 42. bis zum 49. Lebensjahr. Nie wieder ist das Ziehen einer ganz persönlichen Lebensbilanz so notwendig wie in dieser Zeit. Jetzt werden die Weichen gestellt, wie die verbleibende Zeit des Lebens gestaltet werden soll, mehr und mehr selbstbestimmt. Ziele werden definiert, Liegengebliebenes wieder aufgegriffen. In diese Zeit wurde der Begriff Midlife-Crisis gelegt, das Aussteigen aus allem bisher Prägenden. Wieder muss gesagt werden, dass hier idealistische Zeitfolgen geschildert werden, von denen es viele biografische Abweichungen gibt. Und doch ist dieses Jahrsiebt bei allen Menschen durchzogen von den Elementen, die wir jetzt anschauen.

       Marskräfte

       Mut, an das Tor der geistigen Welt zu pochen

      Es braucht auch Mut, an das Tor zur geistigen Welt zu pochen. Dort steht ein Wächter, den Rudolf Steiner auch Hüter nennt, der den Herantretenden prüft, ob er vorbereitet ist, die so andere, die geistige Welt zu betreten. Kein Unberechtigter darf sie betreten, auch weil ihm das Schaden zufügen würde, geistige Lähmung, wie Rudolf Steiner sagt. Denken wir an die alte Mythologie des Jünglings von Sais, der es wagte, die sieben Schleier im Tempel der Isis zu heben. In Märchen und Mythen muss immer der Mut die Furcht besiegen, um an das Ziel (die geraubte Prinzessin oder Jungfrau) zu gelangen. In den Evangelien ist die Begegnung mit geistigen Wesen regelmäßig verbunden mit dem doch eigentlich überraschenden Gruß »Fürchte dich nicht«. Rilke spricht in einem seiner Gedichte davon, dass jeder Engel schrecklich sei.34

       Verzweiflung

       vom Zweifel zur Verzweiflung

      Der Zweifel tritt natürlich schon vor dem 35. Lebensjahr auf, auch der Mut kann bei bestimmten Menschen wie durch die Geburt hindurch in das Leben hineingetragen werden. Doch geht es hier nicht so sehr um die grundsätzlichen Seelenkräfte, die überindividuell sind, sondern um das dann individuelle Ausbilden, Handhaben und schließlich Beherrschen dieser Seelenkräfte vom Ich aus. Ist zum Beispiel die volle, persönliche Kraft des Zweifels ausgebildet und wird in unveränderter Form über das 42. Lebensjahr hinausgetragen, ohne dass sie nun durchstrahlt, durchwärmt und damit metamorphosiert wird von der Kraft des Muts, wird mehr und mehr die Gefahr entstehen, dass das ganze menschliche Sein erfasst und beherrscht wird von dem Zweifel und damit eine Verwandlung desselben hin zur Verzweiflung geschieht. Und damit sind wir bei dem kardinalen Punkt

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