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begann die spontane Besetzung des Syntagma-Platzes – wahrscheinlich in Anlehnung an ähnliche Besetzungen öffentlicher Plätze in Spanien durch die sogenannten indignados, die »Empörten«, die gegen die Sparpolitik protestierten und ihre Würde zurückforderten. Zuerst versammelten sich nach Einbruch der Dunkelheit tausend bis zweitausend Menschen. Sie kamen jeden Abend wieder, und jeden Abend waren es einige Tausend mehr als in der Nacht zuvor. Das ging so drei Monate lang. Auf dem Höhepunkt waren es hunderttausend Menschen. Obwohl gelegentlich Gewalttätigkeiten von Faschisten, der Bereitschaftspolizei und vermummten Anarchisten aufflackerten, waren die perfekt strukturierten Debatten das Besondere an diesen Versammlungen. Niemand durfte länger als drei Minuten sprechen, die Redner wurden ausgelost, und alle paar Stunden wechselte das Diskussionsthema. (Ich weiß noch, dass ich dachte, wie wunderbar es wäre, wenn man solche geordneten Diskussionen an unseren Universitäten einführen könnte.) Es war zwar nicht praktizierte Demokratie, denn es konnten keine bindenden Beschlüsse gefasst werden, aber zumindest war der Platz eine große Agora, die von Möglichkeiten vibrierte. Ganz anders ging es direkt daneben im Parlament zu, der Stätte unserer nationalen Demütigung und Unterwerfung unter eine große Wirtschaftskrise.

      Danae und ich unternahmen oft den zehnminütigen Spaziergang von unserer Wohnung zum Syntagma-Platz, um den Sauerstoff der Hoffnung einzuatmen. Zweimal wurde ich gebeten, zu der Menge zu sprechen. Auf dem Weg zu dem improvisierten Podium erinnerte ich mich daran, dass ich das letzte Mal in Nottinghamshire bei einer Demonstration gesprochen hatte, beim Bergarbeiterstreik 1984 an einer Streikpostenkette. Zumindest war es auf dem Syntagma-Platz warm, die Menschenmenge war viel größer, und ich war nicht länger ein junger »Ausländer, der sich einmischte«, wie mich ein britischer Polizist damals genannt hatte. Aber das Hochgefühl war das gleiche. Als ich sichtlich freudig vom Podium herunterkam, flüsterte mir Danae ins Ohr: »Bist du sicher, dass du nicht für das Parlament kandidieren willst?« Ich sagte, ich sei sicher. Wie immer meine persönlichen Gefühle sein mochten, der beste Beitrag, den ich zu der Sache leisten könne, bestehe darin, die Kontakte zu erhalten, die ich zu Politikern aus unterschiedlichen Parteien geknüpft hätte, und zu versuchen, über Parteigrenzen hinweg etwas zu bewirken. Aber tief im Inneren fragte ich mich, wie lange das noch möglich sein würde. Der Nebel der Zwietracht wurde dicker.

      Im Juni 2011 zwang die Troika die dahinsiechende Regierung, ein zerstörerisches Gesetz nach dem anderen durch das Parlament zu bringen, darunter auch eines, das praktisch alle Rechte der Gewerkschaften aushebelte. Das waren die Rituale ihres Endes, die letzte Demütigung, bevor Papandreou schließlich durch das zweite Rettungspaket der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Menschenmassen auf dem Syntagma-Platz spürten die Krise; es kamen immer mehr, sie waren immer aufgebrachter, und bald besetzten sie den Platz rund um die Uhr. Unheil verheißende Differenzen traten zutage. Auf dem oberen Platz zeigten Nationalisten und Faschisten hässlich Präsenz mit Slogans, die ihren Hass auf alle Politiker, ja sogar auf die parlamentarische Demokratie widerspiegelten – ein deutliches Zeichen für den Aufstieg der Partei Goldene Morgenröte. Auf dem unteren Platz versammelten sich die deutlich zahlreicheren Progressiven und bemühten sich, sowohl dem Establishment wie der plumpen Agitation gegen das Establishment, die auf dem oberen Platz betrieben wurde, die Stirn zu bieten, indem sie die Tradition pluralistischer, gut organisierter Debatten pflegten.

      Abgeordnete, insbesondere von der regierenden sozialistischen Partei, sagten mir am Telefon oder verbittert bei einer Tasse Kaffee hinter verschlossenen Türen, dass sie es nicht mehr aushielten. Auf dem Weg ins Parlament an den schreienden, wütenden, gedemütigten Menschen vorbeizugehen, um drinnen für Gesetze zu stimmen, die sie verabscheuten, belastete sie sehr. Immer wieder sagten sie mir, sie stünden kurz davor, gegen die von der Troika diktierten Gesetzesvorschläge ihrer eigenen Regierung zu stimmen, aber immer wieder wurden sie, mit höchstens ein oder zwei Ausnahmen, auf die Regierungslinie zurückgebracht. Innerhalb eines Jahres fiel die sozialistische Partei, die drei Jahrzehnte lang stets um 40 Prozent der Wählerstimmen gewonnen hatte, auf klägliche 5 Prozent zurück.

      Eines Tages gegen Ende Juni umstellten fünftausend Polizisten den Syntagma-Platz, um die Besatzer zu vertreiben. Sie setzten mehr Tränengas ein, als man es in einem relativ engen städtischen Raum jemals erlebt hatte, dazu noch Blend- und Rauchgranaten, Wasserwerfer und ganz altmodische Polizeigewalt und verwandelten den Platz und die Umgebung in eine Wüste. Kriegsreporter aus meinem Bekanntenkreis, die schon vieles erlebt hatten, sagten mir, sie hätten sich niemals vorgestellt, derartige Gewalt in einer Stadt wie Athen zu erleben. Häuserwände und das Pflaster waren schwarz vom Rauch, in der ganzen Stadt roch es noch wochenlang nach Chemikalien. An diesem Tag hatte die Regierung den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren, regelrecht ausgelöscht.

      Bailoutistan 2.0

      Die technischen Details, wie Ministerpräsident Papandreou abgesetzt wurde, sind zu traurig, um sie hier zu erzählen. Es genügt zu sagen, dass es wie in jedem guten Drama ablief: Die Troika brachte ihn durch politische Machenschaften zu Fall, mit Beteiligung der Höflinge, die seinen wackligen Thron umgaben. Es war typisch für die grausame Gleichgültigkeit der Troika gegenüber Menschen, die ihr loyal dienten, dass sie Giorgos Papandreou eine letzte Schmach zufügte, bevor sie ihn abservierte: Im Oktober 2011 musste er noch einmal nach Brüssel reisen, um seine Unterschrift unter den Entwurf für die zweite Rettungsvereinbarung und die Umschuldung zu setzen, die er im Namen der Troika so lange als »unnötig und nicht wünschenswert« abgelehnt hatte.

      Eine Nachfolgeregierung zu finden, die die zweite Rettungsvereinbarung durch das Parlament bringen würde, war nicht einfach. Papandreous Rücktritt und die zunehmende Erschöpfung der regierenden Sozialisten sprachen für Neuwahlen. Aber was an den Urnen geschieht, ist unvorhersehbar, und die Organisation von Wahlen dauert mindestens einen Monat, zu lange aus Sicht der EU, des IWF und der griechischen Elite. Stattdessen bildeten sie eine Übergangsregierung aus mehreren Parteien, und erst nachdem sie das zweite Rettungspaket verabschiedet haben würde, sollten im Frühjahr 2012 Neuwahlen riskiert werden. Für die Bildung dieser großen Koalition musste Antonis Samaras, der Vorsitzende der oppositionellen konservativen Partei, für die Logik der Rettungspakete gewonnen werden, die er bislang abgelehnt hatte.

      Eine Begegnung genügte – am 23. Juni 2011 in Berlin mit Kanzlerin Merkel –, um Antonis Samaras von seiner Zustimmung zu meiner ablehnenden Position abzubringen, die er in unserem Telefongespräch nach meinem Auftritt im staatlichen Fernsehen geäußert hatte. Die Aussicht, in die Villa Maximos einzuziehen, den Amtssitz des griechischen Regierungschefs, erwies sich als unwiderstehlich. Er war nicht der letzte Politiker, der die prinzipielle Gegnerschaft zu Rettungspaketen für dieses Amt opferte. Der Plan sah folgendermaßen aus: Nach Papandreous Rücktritt sollte ein »technokratischer« Ministerpräsident eingesetzt werden, die linke Mitte (PASOK) und die rechte Mitte (Nea Dimokratia) würden Minister in seiner Regierung stellen und für die nötige Unterstützung im Parlament sorgen. Sobald diese Regierung das zweite Rettungspaket durch das Parlament gebracht hätte, würde sie Neuwahlen ansetzen. Nach der Implosion der PASOK – die die moralischen und politischen Kosten des ersten Rettungspakets getragen hatte – würde die Nea Dimokratia von Antonis Samaras die Wahlen unweigerlich gewinnen. Sofern es Antonis Samaras mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, seine ablehnende Haltung zu Rettungspaketen über Bord zu werfen, sich für das zweite Paket auszusprechen und die Interimsregierung hinter den Kulissen zu unterstützen, musste er nur sechs bis acht Monate warten, um Ministerpräsident zu werden. Und genau so kam es dann auch.19

      Als Gipfel des Zynismus wählten die Herren als Anführer der großen Koalition niemand anderen als den kurz zuvor zurückgetretenen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank. Loukas Papadimos, ehemaliger Wirtschaftsprofessor in meiner Fakultät an der Universität Athen, würde einige unglückliche Äußerungen vergessen müssen, bevor er in die Villa Maximos einziehen konnte. Drei Tage bevor er seinen Amtseid ablegte, plapperte er immer noch die offizielle Linie der Troika nach, dass eine Restrukturierung der griechischen Schulden »weder nötig noch wünschenswert« sei. Aber als er auf der Schwelle der Villa stand, umringt von Journalisten, die auf seine ersten offiziellen Worte lauerten, verkündete er mit vollkommen unbewegter Miene, seine wichtigste Pflicht als Ministerpräsident werde es sein, sich um die Restrukturierung der griechischen Schulden zu kümmern.

      Und damit

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