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ihre Zunge zu einem gespannten Bogen; Lüge, nicht Wahrhaftigkeit herrscht im Land. Ja, sie schreiten von Verbrechen zu Verbrechen.« (Jeremia 9,2)

      Der junge Prinz

      Psirri, das Stadtviertel, in dem abends junge Leute in Feierlaune unterwegs sind, ist tagsüber ganz anders. Kleine Werkstätten, die Schrauben, Muttern, Schalter, Werkzeuge und anderes herstellen, kämpfen ums Überleben, weil ihre Waren in unserer globalisierten Wirtschaft wertlos geworden sind. Die Luft ist erfüllt von einer Kakofonie geschäftiger Geräusche und den köstlichen Gerüchen, die Bäckereien verströmen und hin und wieder ein Jasminstrauch. Dazwischen ertönen die melancholischen Lieder von Roma-Musikern, die mit ihren Akkordeons, Hörnern und Violinen durch die Straßen wandern und von nostalgischen Passanten die eine oder andere Münze bekommen.

      Ich kenne Psirri gut, weil mein einstiges Büro an der Universität nur ein paar Hundert Meter entfernt war und Danaes Studio mitten in dem Viertel liegt. Ganz in der Nähe, am Rand von Psirri, befindet sich der heruntergekommene Sitz der Koalition der Radikalen Linken, allgemein bekannt unter dem Namen Syriza. Deshalb war es absolut einleuchtend, dass Nikos Pappas, der engste Mitarbeiter des jungen Parteivorsitzenden, bei seinem Anruf Anfang 2011 ein Treffen in Psirri vorschlug.

      Wir trafen uns in einem diskreten Boutique-Hotel, einer jener Investitionen in dem Viertel, die jetzt vom trügerischen Beginn der Gentrifizierung zeugen, der 2010 abrupt endete. Das Hotel wurde zu unserem regelmäßigen Treffpunkt; in seinen pastellfarben getünchten Wänden führten wir unsere Gespräche, die an jenem Tag in gemächlichem, geradezu akademischem Tempo begannen, aber Anfang 2012 gewichtig und zielgerichtet wurden. Doch an jenem ersten Tag und noch einige Zeit danach hatte ich keinen Grund anzunehmen, dass unser Treffen sich wiederholen würde.

      Alexis Tsipras hatte ich zum ersten Mal auf den Plakaten gesehen, mit denen er für seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters bei den Kommunalwahlen 2008 geworben hatte. Danae, die diese spezielle Richtung der griechischen Linken seit Langem unterstützte, war begeistert, dass ein Vierunddreißigjähriger sich um ein Amt bewarb, das in der Regel viel ältere, langweilige Politiker innehatten, weil es als Sprungbrett in die Villa Maximos galt.2 Bei der Wahl verdoppelte Alexis den Stimmenanteil von Syriza in Athen Zentrum, und kurz darauf fegte die alte Garde der Partei in einem internen Putsch den Mann weg, der Alexis als seinen Nachfolger aufgebaut hatte, und machte ihn zum Vorsitzenden. Bei den Parlamentswahlen ein Jahr später, als Alexis zum ersten Mal als Parteivorsitzender antrat, beherrschte jedoch der große Aufschwung von Giorgos Papandreous unglückseligen Sozialisten die Schlagzeilen. Syriza3 erreichte mit miserablen 4,6 Prozent der Wählerstimmen – ein halber Prozentpunkt weniger als 2007 – gerade einmal Platz fünf.

      Alexis und Pappas saßen schon an einem Tisch, als ich das Hotel betrat, und bestellten etwas zu essen. Alexis’ Stimme war warm, sein Lächeln offen, sein Händedruck freundschaftlich. Pappas hatte einen brennenden Blick und eine hohe Stimme. Er machte pausenlos Witze, egal, ob das Thema lustig war oder traurig, und bemühte sich, Autorität auszustrahlen, während er sich gleichzeitig kumpelhaft gab. Von Anfang an war klar, dass Pappas das Ohr des jungen Prinzen besaß, ihn lenkte, bremste oder antrieb, und dieser erste Eindruck blieb auch in den nachfolgenden turbulenten Zeiten bestehen: Diese beiden jungen Männer, von ähnlichem Alter, aber unterschiedlichem Temperament, dachten und handelten wie eine Person.

      »Ich verfolge Ihre Arbeit seit Jahren – seit ich die Grundlagen gelesen habe«, begann Pappas und brach das Eis zwischen uns mit dem Hinweis auf ein Lehrbuch, das ich 1998 veröffentlicht hatte.4 Offenbar war er als Doktorand in Schottland auf das Buch gestoßen und hatte danach auch den Bescheidenen Vorschlag zur Lösung der Eurokrise gelesen, den ich zusammen mit dem ehemaligen britischen Labour-Abgeordneten und Professor für Volkswirtschaft an der Universität Sussex, Stuart Holland, verfasst hatte. Stuart und ich hatten seit 2005 an dem Bescheidenen Vorschlag gearbeitet, motiviert durch die Überzeugung, dass der Euro eine gewaltige Krise auslösen könnte, die Europa womöglich nicht überleben würde.5 Nachdem die Krise dann tatsächlich ausgebrochen war, taten wir unser Bestes, um den Bescheidenen Vorschlag weiter auszuarbeiten und zu verbreiten, weil wir fest daran glaubten, dass das Europas beste Chance war, den Niedergang aufzuhalten. »Sagen Sie Alexis, was Sie im Bescheidenen Vorschlag geschrieben haben«, forderte mich Pappas auf.

      Ich skizzierte die grundlegenden Gedanken, und dann wandte sich das Gespräch der allgemeinen Bewertung der wirtschaftlichen Lage von Bailoutistan zu und der Frage, was progressive Kräfte unternehmen konnten, um dem Land einen Ausweg aus dem Schuldgefängnis zu zeigen.

      Schon bald war klar, dass Alexis aus politischen Gründen bei einem zentralen Thema schwankte: ob Griechenland im Euro bleiben sollte oder nicht. Bereits 2011 war Syriza gespalten, ob die Partei den Grexit (den Austritt aus der Eurozone, aber nicht unbedingt aus der EU) zu ihrer offiziellen politischen Linie erklären sollte. Während wir uns unterhielten, erschien mir Alexis’ Haltung zu lässig und unausgegoren. Er konzentrierte sich mehr darauf, die zerstrittenen Flügel seiner Partei zusammenzuhalten, als für sich zu klären, was die richtige Politik war. Nach den bedeutungsvollen Blicken zu urteilen, die von Pappas kamen, dachte er genauso und hoffte, ich würde es schaffen, seinen Parteiführer davon abzubringen, mit dem Grexit zu liebäugeln.

      In dem weiteren Gespräch, das etwa eine Stunde dauerte, tat ich mein Bestes, um Alexis zu vermitteln, dass es ein genauso großer Fehler wäre, den Grexit als Ziel ins Auge zu fassen, wie sich nicht darauf vorzubereiten. Ich warf seiner Partei vor, dass sie dumme Versprechungen mache, etwa dass sie nach einem Wahlsieg die Rettungsvereinbarung mit der EU und dem IWF einseitig kündigen werde.

      »Warum können wir nicht zu ihnen sagen, dass wir den Euro verlassen, wenn sie nicht akzeptieren, dass wir ihr Programm ablehnen?«, fragte Alexis.

      Ich erklärte, dass bei einer Konfrontation mit der Troika drei Ergebnisse denkbar waren. Der beste Ausgang wäre eine neue Vereinbarung mit Griechenland – eine ernsthafte Umschuldung, das Ende der selbstmörderischen Austerität und eine Reihe von Reformen, die auf die Oligarchie zielen würden –, bei der wir im Euro bleiben würden. Der schlimmste Ausgang wäre es, unter unveränderten Bedingungen im Euro zu bleiben: im Schuldgefängnis mit sinkenden Einkommen, Aussichten und Hoffnungen. Der Grexit würde zwischen den beiden Szenarien liegen: sehr viel schlimmer als ein gangbarer Weg innerhalb der Eurozone, aber mittel- und langfristig besser als die Fortsetzung des verhängnisvollen Kreislaufs von Rettung, Austerität und Krise für weitere fünf oder noch mehr Jahre.

      Ich sagte ihm, dass Berlin, Frankfurt, Brüssel und der IWF unter keinen Umständen ein Ultimatum von ihm akzeptieren würden, sie würden nicht darauf eingehen. Ein solches Ultimatum auszusprechen wäre darum eine Garantie für das dritte Ergebnis – den Ausschluss aus der Eurozone – und würde die Chance auf die erste Option verspielen. Um die Tür für das bestmögliche Ergebnis offen zu halten, musste er Verhandlungen erzwingen. Deshalb durfte er den Grexit nicht als Drohung (und schon gar nicht als Ziel) verwenden und musste zudem der Welt signalisieren, dass ihn nicht der erzwungene Grexit am meisten erschreckte, sondern die Fortsetzung der gegenwärtigen Situation. Ich war mir allerdings nicht sicher, inwieweit er sich für die Feinheiten dieser Argumentation interessierte.

      »Aber Yanis, viele Leute, auch Paul Krugman, sagen, wir wären ohne den Euro besser dran«, erwiderte Alexis.

      Ich stimmte zu, dass es uns besser gehen würde, wenn wir niemals in die Eurozone eingetreten wären. Aber ich beeilte mich hinzuzufügen, dass es eine Sache war, von Anfang an nicht dabei gewesen zu sein, und eine andere, den Euro jetzt zu verlassen. Ein Austritt würde uns nicht dorthin bringen, wo wir sein könnten, wenn wir niemals eingetreten wären!

      Um ihn aufzurütteln, schilderte ich, was in dem Augenblick passieren würde, in dem der Grexit verkündet würde. Anders als Argentinien, das die Verbindungen seiner Währung zum Dollar gekappt hatte, hatte Griechenland keine eigenen Geldscheine und Münzen. Der Grexit wäre also mehr, als einfach nur den Wechselkurs zwischen der Drachme und dem Euro aufzuheben. Argentinien hatte von der Lösung der Verbindung zum Dollar durch eine drastische Abwertung seiner Währung profitiert, die zu einem starken Anstieg der Exporte führte. Dadurch sank das Außenhandelsdefizit

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