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Haupt- und Nebenwirkungen. Gabriele Goettle
Читать онлайн.Название Haupt- und Nebenwirkungen
Год выпуска 0
isbn 9783888979576
Автор произведения Gabriele Goettle
Жанр Медицина
Издательство Bookwire
Während ich hier schreibe, kommt die neueste Nachricht über die erfolgreiche Arbeit der Lobby der Pharmaindustrie: Ein Entwurf der EU-Kommission für eine neue Verordnung zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln und deren Erprobung am Menschen sieht vor, die Beteiligung unabhängiger Ethikkommissionen bei der Zulassung der klinischen Tests abzuschaffen. Ebenso die derzeit verpflichtende Beteiligung einsichtsfähiger, aber noch minderjähriger Kinder am Einwilligungsverfahren.
ADVERT RETARD®
Gegen die Werbeschlacht der Pharmaindustrie
DR. MED. PETER TINNEMANN, Leiter des Bereichs Internationale Gesundheitswissenschaften am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité, Mitinitiator des pharmakritischen Seminars »Advert Retard®« für Medizinstudenten u. des Vereins CMI für eine zertifizierte medizinische Unabhängigkeit. Peter Tinnemann ist 1967 in Herne/Ruhrgebiet geboren, besuchte in Herne die Schule, machte 1987 Abitur. Ab 1989 studierte er Medizin u. schloss das Studium 1999 in Hamburg mit der Promotion ab. Anschließend Auslandsaufenthalte (innerhalb von 12 Jahren in 15 verschiedenen Ländern, u.a. 1996–2003 in Afrika für Ärzte ohne Grenzen). Von 2003–2006 Aufenthalt in England und Arbeit beim NHS (National Health Service) u. ab 2005 nebenher Studium in Cambridge, wo er 2007 seinen Master of Public Health machte. Ab 2007 Arbeit an der Charité und daneben, seit 2012, Arbeit im sozialpsychiatrischen Dienst beim Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg (im Rahmen einer Facharztausbildung). Peter Tinnemann ist geschieden u. hat 2 Töchter (von 2 Frauen), sein Vater war Elektrotechniker, die Mutter gelernte Schneiderin und Ikebana-Lehrerin.
Mehr als das Doppelte von dem, was sie für Forschung und Entwicklung ausgibt, steckt die Pharmaindustrie in ihre Werbung. Tag für Tag sprechen 15.000 Pharmavertreter mit ihren Musterkoffern und Werbepräsenten bei Ärzten und in Krankenhäusern vor. Pharmakonzerne finanzieren oder sponsern so gut wie alle relevanten ärztlichen Weiterbildungskongresse. An der Berliner Charité gibt es seit mehr als drei Jahren ein Seminar mit dem anzüglichen Namen »Advert Retard®«, was eine englisch-lateinische Wortschöpfung ist mit der Bedeutung einer gleichmäßigen und über längere Zeit ihre Wirkung entfaltenden Werbung. Und um die geht es. Dieses Seminar hat sich die Aufgabe gestellt, den Medizinstudenten zu vermitteln, dass es sich hier nicht um eine zu vernachlässigende Erscheinung des Arzneimittelmarktes handelt, sondern um eine gezielte und gut funktionierende Beeinflussung des ärztlichen Verhaltens, um korrumpierende Anreize, zugunsten der Verkaufsförderung von Produkten mit dem jeweiligen Markennamen. Die vielfältigen Marketingstrategien und Werbemethoden der Pharmaindustrie werden den Studenten vor Augen geführt und der sogenannte Interessenkonflikt der Ärzte analysiert.
Das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie befindet sich in einem renovierten Altbau, keine 100 Meter entfernt vom Bettenturm der Charité. Herr Dr. Tinnemann bittet uns in einen kleinen Seminarraum und stellt uns seine Praktikantin vor, die zuhören möchte. Er bietet uns Wasser an und beginnt auf meine Frage, wie es zu seinem Seminar kam, mit dem Erzählen: »Das Thema Pharmaindustrie beschäftigt mich schon lange, eigentlich seit der Zeit, den sieben Jahren, in denen ich für ›Ärzte ohne Grenzen‹ in Afrika tätig gewesen bin. Die Organisation hat sich sehr dafür eingesetzt, dass HIV/Aids infizierte Menschen in Süd-Sahara mit anti-retroviralen Medikamenten behandelt werden können. Ich habe unterernährte Kinder gesehen, Kinder, die vom schmutzigen Wasser Durchfallerkrankungen hatten, und vor allem Kinder und Erwachsene, die mit HIV/Aids infiziert waren. Ich habe noch so eine Fotoreihe von einem kleinen Mädchen, sie war sieben Jahre alt, und sie ist ganz elend zugrunde gegangen, vor unseren Augen. Wir hatten nichts, um ihr zu helfen. Wir hatten grade mal Paracetamol für ihre Schmerzen. Damals bin ich als Mediziner unentwegt darüber gestolpert, dass es sehr viele Menschen gibt, kranke Menschen, die einfach keinen Zugang haben zu Medikamenten, weil die Medikamente exorbitant teuer sind. Sie können sich die nicht kaufen. Da fragt man sich dann, warum sind die eigentlich so teuer. Kann man was daran ändern? Geht es auch anders?
Dann habe ich zu einer späteren Zeit im englischen Gesundheitsdienst mehrere Jahre gearbeitet. Das Gesundheitssystem ist anders organisiert, als wir es kennen. Und es ist gut, auch wenn gern Anderes behauptet wird. Es ist staatlich, kostenlos für den Bürger und wird finanziert über die Steuern, was gerechter ist. Also das war damals, unter der Labour-Regierung, da hatten sie schon angefangen mit Privatisierung. Wie es heute genau aussieht, weiß ich nur von Kollegen. Aber ich muss ehrlich sagen, die Ärzte sind wesentlich besser ausgebildet. Wir, als Gesundheitsamt, waren u.a. auch verantwortlich dafür, dass die Patienten zuverlässig alle notwendigen Medikamente bekommen. Es gibt kein Krankenkassensystem, die Regierung verhandelt direkt mit der Pharmaindustrie und entscheidet in der Konsequenz, was Medikamente eigentlich kosten dürfen. Ich habe sozusagen verstanden, wie es funktioniert. Da gibt es Preisfestlegungen, die anders getroffen werden als bei uns, wo sie dem freien Markt überlassen sind. Die Verhandlungsmacht des Nationalen Gesundheitssystems ist natürlich auch eine ganz andere, als wenn hier in Deutschland jede Krankenkasse für sich mitverhandelt
Und als ich dann an die Charité kam und hier an diesem Institut begonnen habe, Medizinstudenten zu unterrichten in Epidemiologie und Sozialmedizin, da fiel mir auf, was hier alles fehlt, und dass man sich in Deutschland jahrzehntelang dagegen gewehrt hat, das überhaupt Sozialmedizin zu nennen, wie das in anderen Ländern üblich ist. Die Sozialhygiene bzw. Sozialmedizin entstand ja in Deutschland. Alfred Grotjahn (1869–1931) war der Begründer der Sozialhygiene, er hatte 1920 hier an der Charité den ersten sozial-hygienischen Lehrstuhl. (Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Grotjahn zugleich weitgehende rassehygienische und eugenische Vorstellungen in seinen Schriften äußerte. Anm. G.G.) Von ihm ist auch die Forderung: »Übernahme des gesamten Heil- und Gesundheitswesens in den Gemeinbetrieb unter Beseitigung jeglicher privatkapitalistischer Wirtschaftsform«. Die Nazis haben die Sozialhygiene dann missbraucht, sie haben sie über die Eugenik zur Rassenhygiene gemacht. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich dann keiner mehr getraut zu sagen, ich kümmere mich um die Gesundheit der Bevölkerung.
In der DDR war das anders. Im Westen wurde gesagt, das macht der Staat nicht mehr, das wird sozusagen ins marktwirtschaftlich kapitalistische System eingetütet. Man hatte sich verabschiedet von Infektionskrankheiten, es ging nur noch um Krebs und Diabetes. Erst in den 80er Jahren hat man gemerkt, wir haben gar keine Experten mehr, und da hat man angefangen, junge Leute ins Ausland zu schicken, z.B. Karl Lauterbach, auf ein Regierungsstipendium zum Studium von ›Health Policy and Management‹ und der Epidemiologie an der Harvard School of Public Health in Boston. Diese Leute sollten die modernen Ideen von Public Health hier wieder reetablieren. Das Ganze war sehr befeuert durch HIV/Aids, in dem man wieder so was wie eine große Volksseuche befürchtet hat. Mit den Behandlungsmöglichkeiten hat sich dann aber das Interesse wieder verloren.
Es lag für mich nahe, mich an diesem Institut mit dem Thema Pharmaindustrie auseinanderzusetzen. Wir befassen uns mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Gesundheit von Menschen, da guckt man natürlich zuerst mal in die armen Länder. Aber ich stellte fest, auch in Deutschland gibt es viele Arme. Und da fragte ich mich, welche Verantwortung haben eigentlich Ärzte für arme Menschen? Die sollten sich positionieren. Was für eine Rolle spielt die Pharmaindustrie? Genau in dem Moment kamen Kollegen von der Organisation Health Action International – einer Dachorganisation vieler Organisationen, die sich kritisch auch mit der Pharmaindustrie auseinandersetzen – und die hatten ein Handbuch zusammengestellt, gemeinsam mit der WHO, zum Thema: verstehen und reagieren auf Werbung und Beeinflussungen der Pharmazeutischen Industrie. Sie kamen auf mich zu, weil ich mit Health-Action-International-Leuten mal zu tun hatte.
Da geht es um ein ganz zentrales Thema, nämlich darum, zu lernen, die Strategien erst mal zu erkennen und zu durchschauen, damit man ihnen dann auch widerstehen kann. Diese Herausforderung ist ja leider nicht Teil des medizinischen Curriculums. Mit dem Thema endlich mal an den Universitäten anzufangen, darüber Studierende der Medizin zu informieren, das war der Gedanke. Ich hab dann mal geschaut, wer befasst sich in Deutschland eigentlich generell mit dem Thema, habe einige eingeladen