Скачать книгу

und der durch sie hervorgerufenen Verwerfungen und Krisen aufdecken. So enthält die genaue Beschreibung der Lage arbeitender Klassen in England, die Friedrich Engels seinerzeit geleistet hat, bereits eine radikale Gesellschaftskritik. Für die normative Begründung dieser Kritik muss allerdings etwas anderes hinzukommen. Die ideologischen Selbstlegitimationen kapitalistischer Dynamik produzieren beständig Ansprüche, Erwartungen und auch Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der sozialen Realität nicht erfüllt werden. Solche Diskrepanzen zwischen Sein und Sollen sind ebenfalls eine wichtige, wenngleich nicht die einzige Quelle von Gesellschaftskritik, wie sie ein democratic marxism anstrebt. Die normativen Maßstäbe dieser Kritik können aus dem hegemonialen »Geist des Kapitalismus«31, den Rechtfertigungsordnungen kapitalistischer Gesellschaften, herausgefiltert werden. Wie sich noch zeigen wird, stellen die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen32 eine normative Grundlage sowohl von Kapitalismus- als auch von Sozialismuskritik dar, denn sie eignen sich, um Bestehendes und Erreichtes mit dem Nötigen und Wünschbaren abzugleichen.

      Als weitere methodologische Regel folgt daraus: Die Maßstäbe, an denen sich eine nächste sozialistische Gesellschaft messen lassen muss, dürfen nicht hinter das normative Fundament zurückfallen, das zuvor den Maßstab für Kapitalismuskritik lieferte. Rosa Luxemburg hat das in ihrer bereits angesprochenen Auseinandersetzung mit den Bolschewiki sehr deutlich gemacht. Die autoritäre Versuchung, vor der sozialistische Revolutionen nicht gefeit seien, stelle sich bereits ein, wenn das, was von außen, von politischen Gegnern als Notmaßnahme aufgezwungen werde und zeitweilig kaum vermeidbar sei, zur Normalität erhoben und als emanzipatorische Praxis verklärt werde.33 Um dergleichen zu vermeiden, benötigen sozialistische Gesellschaften einen institutionalisierten Zweifel, also öffentliche, wissenschaftlich fundierte Gesellschaftskritik, die – wie im Kapitalismus – ihre normativen Maßstäbe offenzulegen hat.

      Halten wir fest: Die Suche nach einer Neudefinition von Sozialismus kann methodologisch auf eine Reinterpretation klassischer Sozialismustexte und -konzepte zurückgreifen, sie hat analytischen Reduktionismus zu vermeiden und muss sich ihrer normativen Grundlage bewusst sein. Diesen methodologischen Anforderungen kann hier nur annäherungsweise entsprochen werden, denn sie klagen eine Systema tik ein, die ein Essay nur sehr bedingt einzulösen vermag. Bei dem Bemühen um eine Redefinition von Sozialismus gilt es außerdem zu bedenken, dass marxistische Begründungen sozialistisch-kommunistischer Gesellschaften nur eine Option unter anderen möglichen darstellen. Protagonist:innen der neuen Sozialismus-Debatte kommen häufig ohne umfassenden Rückgriff auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aus. Die Autorinnen des Manifests Feminismus für die 99 % berufen sich vorzugsweise auf kapitalismuskritische Strömungen in der Frauenbewegung.34 Thomas Piketty grenzt seinen partizipativen Sozialismus ausdrücklich von marxistischen Konzeptionen ab.35 Michael Brie und Claus Thomasberger beziehen sich in ihrem Plädoyer für einen freiheitlichen Sozialismus stärker auf Karl Polanyi als auf Karl Marx und Friedrich Engels.36 Brigitte Aulenbacher verknüpft Polanyis Ideen mit Debatten um eine Care-Revolution37 und Evgeny Morozovs digitaler Sozialismus nimmt, wie Thomas Piketty, eher auf sozialdemokratischen Reformismus als auf revolutionäre Sozialismuskonzeptionen Bezug.38 Der Sozialismus eines John Stuart Mill findet ebenfalls wieder Anerkennung39 und manifestiert sich in zeitgenössischen Entwürfen als Spielart eines neuen Sozialliberalismus.40 Die Liste mit Referenzen für eine zukunftsträchtige Sozialismus-Diskussion ließe sich erheblich erweitern, und die Vielfalt der Interventionen kann, so sie denn zu konstruktiver Kontroverse anregt, zweifellos eine Stärke sein. Schon wegen der konzeptuellen Vielfalt müssen sich Sozialismus-Begründungen, die der Methodik eines democratic marxism entsprechen wollen, ihrem theoretischen Erbe behutsam und kreativ nähern, ohne es als einen Steinbruch zu betrachten, der nahezu jede beliebige Interpretation erlaubt. Blicken wir daher auf die Ursprünge des marxistischen Sozialismus zurück.

      III Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie

      Nun kann es an dieser Stelle nicht um eine strenge Werkexegese gehen, die systematisch rekonstruiert, was Marx, Engels und ihre zahlreichen Interpret:innen zu Sozialismus und Kommunismus geschrieben haben. Ich beschränke mich darauf, Kriterien für eine Heuristik zu entwickeln, mit deren Hilfe sich tradierte von zeitgemäßen Sozialismen unterscheiden lassen. Als historischer Ausgangspunkt für dieses Vorhaben eignen sich Überlegungen, die Friedrich Engels in der Spätphase seines Lebens anstellte, als sozialistische und sozialdemokratische Parteien ebenso wie die Gewerkschaften sich anschickten, Massenorganisationen zu werden.

      Die These

      Beginnen wir unsere Entdeckungsreise in Sachen Sozialismus deshalb im späten 19. Jahrhundert. 1880 erschien, zunächst in französischer Sprache, eine Broschüre mit dem anspruchsvollen Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.1 Als Grundlage dienten drei Kapitel aus dem sogenannten Anti-Dühring2 – einer von Friedrich Engels verfassten Streitschrift, die sich gegen den Privatgelehrten und Verfechter eines antimarxistischen »Sozialismus des arischen Volkes«, Herrn Eugen Dühring, richtete. Die Intervention überlebte den Gegenstand ihrer Kritik und trug erheblich zur Popularisierung von Marx’ Theorie bei. Heute gilt das Bemühen, die von Hegel entliehene Dialektik nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf Mathematik und Naturwissenschaften zu übertragen, vielen als besonders dogmatischer Versuch, die Welt nach abstrakten Bewegungsgesetzen modellieren zu wollen. Sozialismus, so ein verbreiteter Vorwurf, werde zum Resultat eines vorprogrammierten geschichtlichen Verlaufs erklärt, den zu vollenden ausschließlich das revolutionäre Proletariat berufen sei.

      Ohne Zweifel finden sich in Engels Schrift Formulierungen, die als Belege für ein teleologisches Geschichtsverständnis interpretiert werden können. Es sind aber auch völlig andere Lesarten jener Artikelserie möglich, die in der zitierten Broschüre als zusammenhängendes Ganzes präsentiert wird. Schon die ersten Zeilen stellen klar, dass der moderne Sozialismus »seinem Inhalt nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie« ist.3 Die enge Koppelung von gesellschaftlichen Widersprüchen und sozialistischer Vision dient der Abgrenzung von einem utopischen Denken, dessen Anhänger den Sozialismus als »Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit« betrachten. Diese Wahrheit, so Engels süffisant, brauche »nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern«. Sie sei »unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung«; »bloßer Zufall« entscheide, wann und wo sie entstehe.4 Ewige Wahrheiten, die noch dazu bei »jedem Schulstifter verschieden«5 ausfallen, konfrontiert Engels deshalb mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der den Sozialismus aus realen Bewegungen der Gesellschaft heraus zu begreifen beabsichtigt. 6

      So verstanden, ist Sozialismus eben kein unabänderliches Endziel, das im Gang der Geschichte bereits angelegt wäre. Weder handelt es sich um ein geschlossenes, unabänderliches Theoriegebäude noch um ein starres Gesellschaftsmodell. Was Sozialismus sein kann oder sein soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. Das ist der Grund, weshalb Engels sich, auch hierin seinem kongenialen Partner Marx eng verbunden, bei der genauen Beschreibung sozialistischer Gesellschaften zurückhält. Weil der Kapitalismus »nichts« ist, wenn er nicht in Bewegung ist7, wäre auch der Sozialismus missverstanden, würde er als fertiges Rezept begriffen, das soziale Bewegungen nur noch zuzubereiten hätten. Eher trifft das Gegenteil zu. So wie die Gesellschaft stetem Wandel unterliegt, muss sich auch die Rezeptur, müssen sich Ziele, Organisationsformen und Wege des Sozialismus verändern, um systemische Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen erfolgreich zu überwinden.

      Deshalb kann es, wie Engels immerhin andeutet, nicht bei dem einen Sozialismus bleiben. Sofern es wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, muss, das sei hinzugefügt, auch das S-Wort zwingend im Plural buchstabiert werden. Den Variationen des Kapitalismus entsprechen diverse Sozialismen. Das galt bereits für das Industriezeitalter und gilt für sozialistische Visionen am Beginn des 21. Jahrhunderts in besonderer

Скачать книгу