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im Gegenteil, im Großen und Ganzen wächst »der Kapitalismus bedeutend schneller als früher«, aber dieses Wachstum wird »immer ungleichmäßiger« und äußert sich »im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder«.22

      Anders als neoharmonistische Kapitalismusanalysen haben die Vordenker:innen eines revolutionären Marxismus ein Sensorium für die Ungleichzeitigkeit kapitalistischer Entwicklung, die den großen Rest der Welt von einem kapitalistischen Zentrum abhängig macht. Aus diesem Grund brechen sie mit der Vorstellung, sozialistische Revolutionen seien nur in den industriell weit entwickelten Ländern möglich. Doch ein Grundproblem ihrer Analysen wurzelt darin, dass auch sie Strukturmerkmale des Kapitalismus verabsolutierten, die sich im historischen Verlauf als reversibel oder zumindest als veränderbar erwiesen haben. Folgt man Lenins Fäulnisthese, so hätte es den wohlfahrtsstaatlich regulierten fordistischen Kapitalismus, der sich nach 1945 in den kapitalistischen Metropolen durchsetzte, niemals geben dürfen. Der Imperialismus des frühen 20. Jahrhunderts war eben nicht das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus, sondern nur eine, zweifelsohne höchst bedeutsame, Zwischenetappe kapitalistischer Entwicklung. Die Gründe für eine dynamische Kapitalismusanalyse, die einer Beschwörung von Endzielen und letzten Stadien kritisch gegenübersteht, hatte Friedrich Engels in einem Interview mit Le Figaro treffend auf den Punkt gebracht:

      […] wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefasste Meinungen in Bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden. Wir sind schon zufrieden, wenn wir die Produktionsmittel in die Hände der ganzen Gesellschaft gebracht haben […].23

      Der weberianische Marxismus

      An dieser Stelle sollen historische Kontroversen über Kapitalismus und Sozialismus nicht erneut ausgetragen werden. Im Rückblick wird aber überdeutlich, dass es hochgradig problematisch ist, besondere Strukturmerkmale, die kapitalistische Gesellschaften für eine bestimmte Periode auszeichnen, zu überhöhen, um sie sodann zu allgemeinen Voraussetzungen für sozialistische Gesellschaften und entsprechende Transformationsstrategien zu erklären. Gleich ob reformistisch oder revolutionär, es genügt eben nicht, die Kommandohöhen der Wirtschaft und des Staates zu übernehmen, um von dort aus die Gesellschaft umzugestalten. Strategisches sozialistisches Handeln, das so verfährt, unterschätzt die Komplexität moderner kapitalistischer Gesellschaften. Dieses Problem spricht ein »weberianischer« Marxismus an, der sich in seinen Ursprüngen mit den Namen Georg Lukács und Antonio Gramsci verbindet.24

      Lukács hat als einer der ersten Marxisten hellsichtig die Ausdifferenzierung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften analysiert. In Anlehnung an Max Weber begreift er die Durchrationalisierung aller gesellschaftlichen Sphären als fortschreitende Verdinglichung. Damit ist gemeint, dass mit der Ausbreitung der kapitalistischen Warenform »dem Menschen seine eigene Tätigkeit, seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird«, und »dies sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht«.25 Strukturell zerfällt die Gesellschaft in Teilsysteme, deren Zusammenwirken subjektiv nicht mehr nachvollzogen werden kann:

      Das Aufeinanderbezogensein der Teilsysteme ist auch bei normalstem Funktionieren etwas Zufälliges. Die wahre Struktur der Gesellschaft erscheint vielmehr in den unabhängigen, rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten, die miteinander nur formell notwendig zusammenhängen. […] Denn es ist ja klar, daß der ganze Aufbau der kapitalistischen Produktion auf dieser Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses beruht.26

      Antonio Gramsci antwortet mit seiner Hegemonietheorie auf das aus sozialer Differenzierung und Komplexitätssteigerung resultierende Strategieproblem sozialistischer Transformation. Für Gramsci beruht demokratische Herrschaft im integralen Staat auf Hegemonie, auf einem basalen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten27, der aus den sozialen und symbolisch-kulturellen Konflikten der Zivilgesellschaft erwächst. Jeder Konsens ist mit Zwang gepanzert und in einen historischen Block eingebettet, der Klasseninteressen in die Sphäre der Politik übersetzt, transformiert und sie so weitgehend unsichtbar macht.28 Zwang meint hier nicht in erster Linie offene Gewalt, wenngleich auch diese keineswegs verschwindet. Solange die kapitalistische Eigentumsordnung fraglos vorausgesetzt wird, bedarf der stille ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft keiner besonderen Legitimation. Deshalb können »außerökonomische Güter« wie soziale Bürger- und Freiheitsrechte oder die Gleichstellung von Geschlechtern, Ethnien und Nationalitäten relativ egalitär verteilt werden, denn sie lassen den Kern kapitalistischer Herrschaft unberührt.29 Im integralen Staat eines halbwegs rationalen Kapitalismus wird das Recht zu einer Regulationsform, die auch Interessen beherrschter Klassen berücksichtigen kann. Der Kompromisscharakter des Rechts ermöglicht es, wie Wolfgang Abendroth am Beispiel des (west)deutschen Grundgeset zes gezeigt hat, Demokratie als eine transformative zu denken. Basale Rechtsnormen sind demnach, mit der Institutionalisierung des Rechts variierend, für antikapitalistisch-sozialistische Transformationsstrategien durchaus offen30, was nichts daran ändert, dass sich die Herrschenden und Mächtigen solchen Veränderungen höchstwahrscheinlich mit aller Macht, das heißt immer auch mit und ohne geeignete Rechtsmittel widersetzen werden.

      Das elementare Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit

      Mögliche repressive Reaktionen kapitalistischer Eliten einmal beiseitegelassen, ergeben sich aus der im weberianischen Marxismus geleisteten Kritik am elementaren Dreieck sozialistischer Vergesellschaftung Kriterien für eine Heuristik, die Erik Olin Wright zur Neubegründung eines utopischen Sozialismus entworfen hat. Trennt man den Staat von der Zivilgesellschaft und lässt ferner außer Acht, dass Gramsci administrative und repressive Staatsapparate (Kernstaat) einerseits und die Netzwerke reicher Zivilgesellschaften andererseits im integralen Staat zusammenfügt, erhält man in der Verbindung mit ökonomischer Macht ein weiteres Dreieck, das die elementare Heuristik sozialistischer Vergesellschaftung keinesfalls ersetzt, aber doch erheblich modifiziert und erweitert. Das zuvor eingeführte elementare Dreieck des Sozialismus lässt offen, wie die rationale gesellschaftliche Kontrolle über den Produktionsprozess hergestellt und substanzielle Gleichheit in einer modernen, ausdifferenzierten kapitalistischen Gesellschaft erreicht werden soll. Jeder Konkretionsversuch führt zum Problem strategischer sozialistischer Handlungsfähigkeit, das Erik Olin Wright zum Angelpunkt seines Dreiecks macht, für das ökonomische, staatliche und zivilgesellschaftliche Machtressourcen konstitutiv sind (siehe Abb. 2).

      Zur Begründung dieser Heuristik schlägt Wright eine Definition vor, die den Sozialismus sowohl dem Kapitalismus als auch dem Etatismus entgegensetzt: »Kapitalismus, Etatismus und Sozialismus können als alternative Wege gedacht werden, die Machtbeziehungen, durch welche ökonomische Ressourcen alloziert, kontrolliert und genutzt werden, zu organisieren.«31 Sozialismus ist für Wright eine ökonomische Struktur,

      Abb. 2: Elementares Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit

      Quelle: Wright, Erik Olin (2012): Transformation des Kapitalismus, in: Dörre, Klaus/Sauer, Dieter/Wittke, Volker (Hg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik. Frankfurt a. M./New York, S. 462-487, hier: S. 471. Eigene Darstellung.

      in der die Produktionsmittel sich im gesellschaftlichen Besitz befinden und Allokationen wie der Gebrauch der Ressourcen für verschiedene gesellschaftliche Zwecke von der Ausübung ›gesellschaftlicher‹ Macht beeinflusst werden können. › Gesellschaftliche Macht‹ ist eine Macht, die in der Fähigkeit gründet, Menschen für kooperative, freiwillige kollektive Aktionen verschiedener Art zu mobilisieren. Dies impliziert, dass die Zivilgesellschaft nicht nur als Arena von Aktivität, Geselligkeit und Kommunikation angesehen werden sollte, sondern auch als reale Macht.32

      So verstanden, wird Sozialismus zu einem graduellen Konzept, dem eine Vielfalt möglicher Konfigurationen

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