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nahmen Reißaus.

      »Vielleicht solltest du lieber wegschauen«, hörte ich die Stimme eines Jungen.

      Verschwommen sah ich, dass er der Einzige war, der bei mir geblieben war. Zwischen mir und dem verfehlten Grashaufen stand Noah.

      Als Rabe nach Corona kommt, wird er sofort von den anderen Tieren begrüßt. Die Zeichnungen zeigen humanoide Tiere, alle gleich groß, Specht wie Bär wie Eichhörnchen. Sie alle freuen sich über den neuen Nachbarn, Rabe zieht sofort in eines der vielen gelben Häuser in der Stadt. Warum in Corona so viele Häuser leer stehen, wird nicht erklärt. Dass dort immer die Sonne scheint, muss man beim Lesen einfach hinnehmen. Die Bücher sind nicht perfekt, aber immerhin haben sie nie jemanden getötet wie der Park.

      Offensichtlich habe ich den Sturz überlebt und kann heute wieder laufen. Als ich jedoch schreiend und weinend unter der Sommersonne am Rand unseres Dorfs lag, sah Noah keine andere Möglichkeit, mich zu meinen Eltern zu bringen, als mich zu ziehen. Er griff nach den Enden meiner Flügel und begann, mich durch den Wald zu schleifen.

      Macht das nicht zu Hause nach. Macht das am besten überhaupt nicht nach.

      Jede noch so kleine Erhebung im Waldboden erschütterte meine Beine, jedes Loch und jeder Stein auf dem Weg ließ mich mehr in meinen zerdrückten Plastikschnabel schreien. Schon bald rissen die Flügel, und Noah zog mich an meinen Handgelenken. Wir sahen keine Tiere auf diesem Ausflug.

      Ich weiß nicht, ob meine Schreie weit genug zu hören waren oder ob ein paar der anderen Kinder ihre Eltern informiert hatten, aber schließlich kamen uns Erwachsene entgegen. Sie trugen mich nach Hause, ohne weitere Erschütterungen, sie riefen einen Krankenwagen und redeten beruhigend auf mich ein. Erst hier gelang es mir, das Bewusstsein zu verlieren.

      Als ich wieder erwachte, waren die Knochen gerichtet, die OP erfolgreich und ich in einem Krankenhausbett in einer Nachbarstadt. Sobald die Schwellungen abgeklungen waren, wurden meine Beine in Gips und Schienen gepackt. Ich verbrachte vier Wochen im Krankenhaus. Und sobald ich Besuch empfangen durfte, klopfte ein kleiner Junge an der Tür. Er trug kein Tierkostüm, doch unter seinem Arm klemmte Rabe im Wald, und er wollte wissen, wie es mir ging.

      Und so habe ich Noah kennengelernt.

      Wir kannten das Buch auswendig, doch jedes Mal, wenn er mich besuchte, brachte er es mit. Wir lasen gemeinsam, wie Rabe sich über den buschigen Schwanz des Eichhörnchens wundert. Wie er lernt, dass Frosch sich gern im Wasser aufhält und sein Ruf eine Meile weit zu hören ist. Dass Specht mit seiner langen Zunge Insekten aus den Bäumen in der Umgebung saugt. Ohne es zu merken, lernten auch wir eine Menge über den Wald und ein halbes Dutzend seiner Bewohner.

      Mein Großvater war damals Förster im Dorf und bestätigte mir später, dass all die Angaben im Buch der Wahrheit entsprachen. Arne Guðmundsson, der Autor, hatte sich keine Fehler erlaubt. Sein Buch war so lehrreich wie unterhaltsam.

      Nachdem ich nach Hause entlassen wurde, kam Noah weiter regelmäßig vorbei. Ich musste fast drei weitere Monate im Bett liegen – wahrscheinlich vor allem, weil meine Eltern zu besorgt um ihre einzige Tochter waren, nicht aufgrund ärztlicher Empfehlungen. Doch obwohl ich so auch das Ende des Sommers in meinem Zimmer verbrachte, hätte die Zeit spannender kaum sein können. Es war knapp eine Woche vergangen, da stürmte Noah in mein Zimmer.

      »Sie bauen einen Park!«, rief er und warf mir eine Zeitung entgegen. Wir waren noch nicht einmal eingeschult und konnten das Rabe-Buch nur lesen, weil wir den Inhalt so oft gehört hatten, doch Noahs Mutter hatte ihm alles Wichtige aus dem Artikel erklärt.

      »Einen echten Vergnügungspark! Mit Achterbahn und Karussell! Alles Mögliche! Weil der, der das Buch geschrieben hat, der hat hier gewohnt!«

      Ein Foto neben dem Artikel zeigte zwei Männer, die sich die Hand geben, zwischen ihnen ein Spaten im Boden. Links stand Guðmundsson, der Autor und Zeichner von Rabe im Wald. Rechts ein Mann im Anzug, dem der entstehende Park gehören sollte. Jasper Bellmore, der bald darauf Bellmore Studios gründen würde, fast 30 Jahre jünger als heute und mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne.

      Heute weiß ich, dass ein großer Teil des Parks bereits fertiggestellt war. Das Land nördlich unseres Dorfs wurde Jahre im Voraus vorbereitet, es wurden Straßen gebaut und Wasser- und Stromleitungen verlegt. Und während ich bewegungsunfähig in meinem Bett neben dem Fenster lag, während draußen der Sommer endete und der Herbst begann, sahen Noah und ich mit an, wie in Sichtweite meines Elternhauses der Rest hinzugefügt wurde. Von meinem Kinderzimmer aus verfolgten wir mit, wie Kräne errichtet wurden und nach und nach die ersten Attraktionen wuchsen. Der Park begann klein, die Fahrgeschäfte, die vom zweiten und dritten Rabe-Buch inspiriert wurden, kamen erst später. Trotzdem war zu dieser Zeit nichts interessanter als die Entstehung von Corona Kingdom.

      Wir saßen am Fenster wie Raffaels Engel, unsere Madonna waren ferne Stahlkonstruktionen, die sich nach und nach als Achterbahnen und Freifalltürme entpuppten. Ich hatte genug von freiem Fallen, doch unsere Aufregung ließ sich nicht dämpfen.

      Was ich auch erst heute weiß, ist, dass der Bau nur so schnell vonstattenging, weil Bellmore keine Genehmigungen dafür einholen musste. Wie Walt Disney 1967 setzte er vor Gericht durch, dass sein Land als Kommune gilt, die von seiner Firma verwaltet werden darf. Wie das Reich der Maus in Florida und viele andere Privatunternehmen, die ihrem Umland Vorteile verheißen, ist sein Park ganz offiziell eine Stadt, die über ihre eigene Polizei, Rechtsprechung und sonstige Bürokratie entscheiden kann. Was die Verträge erklärt, mit denen es der Belegschaft später schwer bis unmöglich gemacht wurde, einfach zu kündigen. Doch noch wollte niemand weg. Wir wollten endlich hinein!

      Als wir sechs und meine Beine wieder geheilt waren, wurde der Park endlich eröffnet. Noah und ich hatten unsere Eltern belagert, seitdem wir das Datum wussten. Je näher der Termin rückte, umso mehr Lieferwagen fuhren durch unser Dorf. Wir konnten nicht sehen, was darin war, doch in unserer Fantasie waren die Wagen randvoll mit Popcorn und Zuckerwatte. Würde man die großen Ladeluken öffnen, kämen einem Luftballons und Kuscheltiere entgegen. Ein Tankwagen, der ziemlich sicher Tausende Liter Cola enthielt, entwurzelte einen Baum im Stadtzentrum, doch Noah und ich jubelten, als er an meinem Haus vorbei in Richtung Park fuhr. Dann war der Tag endlich gekommen.

      Am Ende des ersten Rabe-Buches feiern die Bewohner und Bewohnerinnen von Corona ein großes Fest zu Ehren ihres neuen Freundes. Die Tiere singen, tanzen und essen Kuchen. Auf dem Platz in der Mitte der Stadt errichten sie ein großes Lagerfeuer und grillen Nüsse an langen Stöcken. Rabe umarmt jeden seiner neuen Nachbarn und dankt ihnen für den warmen Empfang. Und obwohl weiter die Sonne scheint, geht er mit einem Lächeln auf dem Schnabel schlafen.

      Bei der Eröffnungsfeier von Corona Kingdom gab es weder Feuer noch Grillnüsse, trotzdem waren Tausende Menschen aus der Region gekommen. Nicht nur so gut wie alle Leute aus unserem Dorf, auch Kinder aus anderen Orten liebten Rabe im Wald und waren gespannt auf den Park. Meine Eltern kauften mir meine erste Rabe-Mütze, schwarz mit großen Cartoon-Augen und gelbem Schirm, und Noah aß Softeis, bis er Bauchschmerzen hatte. Wir ließen uns die Gesichter bemalen. Wir trauten uns auf die kleine Rabenflug-Achterbahn und fieberten der Parade entgegen, die für das Ende der Feier angekündigt war. Zu Feuerwerk und lauter Musik betraten schließlich die sieben Tiere den Platz, überlebensgroß und um ein Vielfaches beeindruckender als die unbewegten Bilder aus dem Buch. Sie winkten der Menge zu, und ich war mir sicher, Rabe hatte mich direkt angesehen. Von diesem Moment an war es um uns geschehen.

      Jahrzehnte später erzählte Sonja mir von Themistokles. Laut dem Athener Feldherrn beherrschte sein Sohn seine Frau, seine Frau ihn, und er beherrschte das ganze antike Griechenland, letztendlich hatte sein Sohn also das Sagen über ein ganzes Weltreich. Etwa zwei Jahrtausende danach versuchte Hitler, Kinder für seine Ideologie zu gewinnen, um sie als Erwachsene auf seiner Seite zu haben. Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Und Bellmore hatte uns.

      Woche für Woche sparten Noah und ich unser Taschengeld, um uns weitere Parkbesuche leisten zu können. Unsere Wünsche zu Geburtstagen und Weihnachten waren jahrelang nichts anderes als Eintrittskarten für Corona Kingdom. Als wir alt genug waren, halfen wir Nachbarn im Haushalt und Garten, um etwas dazuzuverdienen. Wenn Noah bei mir übernachtete, saßen wir die ganze

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