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wie ratlose Schluss des Lindblom’schen Buches zeigt, wie grundlegend sich inzwischen die Situation verändert hat. Obwohl die großen Korporationen auch heute keinen Deut weniger die Praxis der Idee der Demokratie bedrohen, sticht doch sowohl ihre Machtfülle ins Auge wie auch ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht in anderen Hinsichten. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs führt zu einem Kernproblem des gegenwärtigen Steuerungsdilemmas: Demokratische Gesellschaftssteuerung ist heute infolge der Globalisierung der großen Konzerne noch anfälliger für deren Ansprüche und Vetomachtpositionen, noch abhängiger von deren Ressourcen, Expertise und Implementierungskompetenz. Zugleich aber sind die Konzerne und Korporationen in entscheidenden Hinsichten ihrerseits abhängiger geworden von den Vorleistungen der Politik und anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme wie Erziehung, Wissenschaft, Gesundheitssystem, Rechtssystem und sogar Familie.

      Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. Hier geht es nur darum, die Komplizierung des Steuerungsproblems durch intensivere Verflechtungen, wechselseitige Abhängigkeiten und folgenreichere Verschachtelungen zwischen den Akteuren einer Gesellschaft zu bezeichnen. Entgegen Lindblom haben wir es nicht mit einem klargeschnittenen Konflikt zwischen demokratischer Legitimität und kapitalistischer Rentabilitätslogik zu tun, sondern mit der Dynamik einer Interaktion eigenlogischer Systeme, die ihre eigenen Blindheiten noch nicht sehen und sich von ihren wechselseitigen Abhängigkeiten noch unabhängig glauben.

      Demokratie als politisches Steuerungsprinzip gerät in die Defensive, so eine erste nahe liegende Schlussfolgerung, sobald das politische Funktionssystem nicht mehr als klare Spitze einer hierarchischen Ordnung dieser Gesellschaft dominiert. Haben sich die anderen Funktionssysteme, vor allem Ökonomie, Finanzsystem, Wissenschaft und Massenmedien, aus dem Schatten einer übergeordneten Politik herausbewegt, und widerspricht zudem ganz grundsätzlich das Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung jeglichem Vorrang nur eines Funktionssystems, dann konkurriert politische Demokratie mit einer Vielzahl eigenlogischer und prinzipiell gleichrangiger Steuerungsformen. Die Frage ist dann, welches Steuerungsprinzip für die Gesellschaft insgesamt gelten soll.

      Mit dieser Frage haben wir uns dem zentralen Paradox der Steuerung moderner Gesellschaften genähert: Als Steuerungsmodell der Gesellschaft insgesamt ist »politische« Demokratie ausgeschlossen, will man nicht gegen die Logik funktionaler Differenzierung, also gegen die Logik der Modernität selbst, einen Primat der Politik gegenüber allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft erzwingen. Zugleich ist aber jede »undemokratische« Form der Gesellschaftssteuerung ausgeschlossen, will man nicht entgegen der[22] Logik der Moderne hinter die Errungenschaften der Menschenrechte und, darauf beruhend, die Errungenschaft der Nutzung individueller Varietät, Vielfalt und Interessiertheit zurückfallen. So bleibt als Entfaltung der Paradoxie wohl nur eine Revision der Idee der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell.

      Diesem Vorhaben einer Revision des Modells der Gesellschaftssteuerung kommen inzwischen mehrere Denkbewegungen entgegen. Zum einen hat die Debatte über Unregierbarkeit herausgestellt, dass demokratische Politik allein nicht vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bis hin zu Steuerungskatastrophen schützt. Herkömmliche demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung ist kurzfristig orientiert und vernachlässigt systematisch mittel- und langfristige Selbstgefährdungen von Gesellschaften:

      »Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive. … Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen – Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation und dergleichen« (King und Schneider 1991, S. 104).

      Zum anderen belegt eine inzwischen weitverzweigte Debatte um den Übergang von government zu governance, dass eine brauchbare Form politischer Steuerung gerade in undurchsichtigen und schwierigen Problemfeldern nur noch durch die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen realisierbar erscheint (Chhotray and Stoker 2010; Willke and Willke 2012).

      Schon vor der Diskussion um Unregierbarkeit hat Amitai Etzioni mit seinem bahnbrechenden Buch über »Die aktive Gesellschaft« (1971) Fundamente einer Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften gelegt, die merkwürdigerweise bislang eher ignoriert als genutzt worden sind. Selbst Lindblom erwähnt diese Arbeit nicht ein einziges Mal, obwohl es ihm doch auch um die Frage grundlegender Formen sozialer Steuerung und Kontrolle geht. Der Grund dafür könnte sein, dass Etzioni ernsthaft eine Theorie der Steuerung anzielt (1971, Kap. 4), was nicht nur in einem amerikanischen Kontext gern als spekulativ abgewehrt wird. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass die empirisch orientierten Überlegungen, aus denen Lindblom die Idee präzeptoraler Steuerung entwickelt, in allen drei behandelten Fällen (China, Kuba, Jugoslawien) dramatisch von der historischen Entwicklung widerlegt worden sind. Ebenso dramatisch hat sich auf der anderen Seite Etzionis Beschreibung entwickelter sozialistischer Gesellschaften bestätigt, die er als übersteuerte (»overmanaged«) Systeme charakterisiert, die den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und Teilsysteme unempfänglich gegenüberstehen. Betrachten wir deshalb[23] die Grundzüge von Etzionis Idee der aktiven Gesellschaft etwas genauer (siehe dazu auch Willke 1992, Kap. 2.2).

      Idealerweise sucht Etzionis Steuerungstheorie die Bedingungen der Möglichkeit aktiver Gestaltung sozialer Realität primär in der Form der Gesellschaft und reduziert sie nicht auf die Rolle der Politik. Dies liegt einem amerikanischen Gesellschaftstheoretiker sicherlich näher als einem europäischen. In Kontinentaleuropa durchzieht die Staatszentriertheit der Gesellschaftstheorie seit Machiavelli über Hegel bis zu Max Weber ungebrochen bis heute die Debatte. Dadurch kommt der Politik geradezu zwangsläufig eine herausgehobene Rolle in der Prägung der Form der Gesellschaft zu. Es ist in dieser Tradition sehr schwer, überhaupt wahrzunehmen, dass die Gesellschaft insgesamt inzwischen vielleicht ihre eigenen Formvorstellungen entwickelt und realisiert hat.

      In der anglo-amerikanischen Tradition dagegen ist der Staat als Gegenstand gesellschaftstheoretischer Analyse nahezu verlorengegangen und muss erst mühsam wiederentdeckt werden (Evans 1985). Allerdings war die amerikanische Gesellschaftstheorie dadurch vor einer Überschätzung der Rolle der Politik bewahrt; es fiel ihr leichter, die Beiträge der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme in der Formung der Gesellschaft als ganzer wahrzunehmen. Eine beide Traditionen umschließende und aufhebende Position ist im Kontext einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie naheliegend, weil einerseits die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem verstanden wird, dem das politische System als differenziertes und spezialisiertes Funktionssystem angehört; weil sie andererseits das eigentliche Steuerungsproblem in der Organisation der Relationen zwischen unverzichtbaren, machtvollen, eigensinnigen, zugleich autonomen und interdependenten Akteuren und Funktionssystemen sieht.

      Etzioni stützt in seinen theoretischen Überlegungen diese aufhebende Position, indem er die Steuerungsfunktion des Staates für eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit einer aktiven Gesellschaft begreift:

      »A society without a state is largely passive, and a state without a societal base is a control network with only a limited capacity for the mobilization of consensus. … The state is more a mechanism of ›downward‹ political control than a mechanism of ›upward‹ societal consensus-formation« (Etzioni 1971, S. 106 f.).

      Zugleich vermittelt dieses Zitat, dass es nach Etzioni nicht genügt, wenn das politische System über eine staatliche Kontrollkapazität zur Implementation politischer Programme verfügt. In »postmodernen«, »aktiven« Gesellschaften ist ein komplementärer Prozess der Mobilisierung von Konsensus (»compliance«, [24]kzeptanz) erforderlich, weil die eigendynamischen und innengeleiteten gesellschaftlichen Funktionssysteme ansonsten auf politische Intervention allergisch reagieren. Solange sich z. B. gesellschaftliche Gruppierungen nicht in Interessengruppen und korporative Akteure organisiert haben, sieht sich das politische System einer Gesellschaft ziemlich anderen Möglichkeiten und Schwierigkeiten sozialer Intervention gegenüber, als wenn diese Organisierung einen hohen Grad erreicht hat. Solange das Erziehungssystem, das Wissenschaftssystem oder etwa das Gesundheitssystem einer Gesellschaft nicht über professionalisierte Rollen, spezialisierte Organisationen und ein eigenständiges Kommunikationsmedium sich selbst autonom gesetzt haben, ist es für das politische System relativ einfach, in diesen

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