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externe Mediatoren Re-Kontextualisierungen erreichen, wie auch interne Revisionen der bislang leitenden Alternativen wirksam werden können.

      Um mit meinem Beispiel der Antigone nicht den Eindruck zu erwecken, dass der Versuch der Steuerung normalerweise in einer Tragödie endet, möchte ich ein weiteres Beispiel skizzieren. Es ist insofern ungewöhnlich, als es in diesem Fall um eine hoch professionalisierte Organisationsform zur Vermeidung Katastrophen geht. Das Beispiel betrifft die Steuerung lose verknüpfter Teams für die Durchführung des Flugbetriebs auf einem Flugzeugträger (siehe dazu die ausführlichen Berichte von Weick/Roberts 1993 und LaPorte/Consolini 1991). Das Steuerungsproblem ist leicht zu sehen:

      »… imagine that it’s a busy day, and you shrink San Francisco Airport to only one short runway and one ramp and one gate. Make planes take off and land at the same time, at half the present time interval, rock the runway from side to side, and require that everyone who leaves in the morning returns that same day. Make sure the equipment is so close to the edge of the envelope that it’s fragil. Then turn off the radar to avoid detection, impose strict controls on radios, fuel the aricraft in place with their engines running, put an enemy in the air, and scatter live bombs and rockets around. Now wet the whole thing down with sea water and oil, and man it with 20-years-olds, half of whom have never seen an airplane close-up. Oh and by the way, try not to kill anyone.« (Rochlin et al 1987, zit. bei Weick 1993, S. 357.)

      Wie lässt sich ein derart katastrophenanfälliges Chaos so steuern, dass tatsächlich so gut wie keine massiven Unfälle passieren? Schon die Fragestellung selbst weicht aufschlussreich von den üblichen Annahmen der Risikoforschung und der Idee »normaler Unfälle« (Perrow 1992) ab. In der Sichtweise[18] dieser Konzeptionen erscheinen Unfälle schon bei milden Graden an Komplexität soziotechnischer Systeme als unvermeidlich, weil die Risikopotenziale (Schwachstellen, Fehlerwahrscheinlichkeiten) der Systemelemente sich zu einer unbeherrschbaren Riskiertheit des Systems insgesamt verknüpfen. Beispiele dafür sind Katastrophen und Beinahe-Katastrophen beim Betreiben von Atomenergieanlagen (Tschernobyl, Three-Mile-Island, Fukushima), Supertankern (Valdez) oder bei Raumflügen (Challenger). Demgegenüber ist es tatsächlich auffällig, dass selbst bei überlasteten Flughäfen oder bei Flugzeugträgern in simulierten Gefechtssituationen nahezu keine massiven Unfälle passieren. Warum?

      Gäbe es eine plausible Antwort auf diese Frage, dann wäre man der Theorie einer Steuerung komplexer Sozialsysteme einen großen Schritt nähergekommen. Ich werde in den folgenden Kapiteln ausführlich auf diese Frage eingehen. Zuvor aber sollten wir, wie es sich für ein Einführungsbuch gehört, festeren Boden unter die Füße bekommen und uns zunächst einigen Grundlagen der Steuerungstheorie komplexer Systeme zuwenden. Was die allgemeinen Grundlagen systemtheoretischen Denkens angeht, verweise ich auf meinen Band »Systemtheorie I«, der in die Grundprobleme der Operationsweise und der Entwicklung komplexer Sozialsysteme einführt. Der Band »Systemtheorie II: Interventionstheorie« hängt bereits sehr eng mit dem Thema Steuerung zusammen. Er behandelt die jeder Steuerung vorgeschaltete grundsätzliche Frage, wie Intervention (als Basisoperation jeder Form der Beeinflussung komplexer Systeme) zu verstehen und zu praktizieren sein könnte. Mit dem vorliegenden Band schließe ich dieses Unternehmen der Einführung in Theorie und Praxis des systemischen Denkens ab. Wie schon beim Thema Intervention steht auch beim Problem der Steuerung immer auch die Frage im Hintergrund, ob und in welcher Weise die Einsichten der modernen Systemtheorie eine aufgeklärtere Praxis der Operationsweise von Sozialsystemen anregen könnten.

      2 Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften[19]

      Nach dem Ende des Mythos vom Sozialismus ist nicht nur der Kapitalismus als Wirtschaftsform, sondern auch Demokratie als Operationsform moderner säkularer Gesellschaften auf sich selbst zurückgeworfen. Es stellt sich die Frage, ob Demokratie als eine Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme gelten kann, welche den Anforderungen gewachsen ist, denen sich am Anfang dieses Jahrhunderts die entwickelten Gesellschaften ausgesetzt sehen.

      Absichtlich verwende ich hier das Konzept der Demokratie nicht als bloßes politisches Herrschaftsprinzip, sondern verallgemeinert als Idee der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme. Damit kommt zum Vorschein, dass die Erfindung der neuzeitlichen Demokratie durch ihre Philosophen und Vordenker wie Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu, Madison und viele andere nicht allein die Frage politischer Herrschaft betraf. Sie bezog sich auch auf das umfassendere Problem der Ordnung einer Gesellschaft, die dabei war, in allen ihren Momenten – und nicht nur in der Frage ihrer Herrschaftsstruktur – das Wagnis der Moderne einzugehen.

      Auf der anderen Seite erzwingt dieser Zugang zur Steuerungstheorie die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass nun, nachdem die Moderne jedenfalls in der Ersten Welt zur Entfaltung gekommen ist, Rückfragen an die Idee der Demokratie gestellt werden müssen. Inzwischen wird denkbar, dass die Ordnung hochkomplexer Gesellschaften durch Demokratie allein nicht mehr gewährleistet ist. Natürlich ist dieses Thema etwas heikel; deshalb will ich von vornherein klarstellen, dass es mir nicht um eine Demission der Demokratie geht, sondern um die Frage ihrer Revision unter dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit als Steuerungsmodell. In ihrem Bericht von 1991 an den Club of Rome konstatieren King und Schneider (1991, S. 69): »Die Demokratie ist kein Patentrezept. Sie bekommt nicht alles in den Griff, und sie kennt ihre eigenen Grenzen nicht.«

      Bevor wir jedoch daran gehen, die Grenzen des Modells der Demokratie unter Steuerungsaspekten zu erörtern, empfiehlt es sich, die Stärken und die Steuerungskapazität von Demokratie näher zu betrachten. Unter dem bezeichnenden Titel »Die Intelligenz der Demokratie« hat Charles Lindblom (1965) ihre vehemente Verteidigung als Steuerungsprinzip vorgelegt. Zurecht betont er die Vorzüge dezentraler, verteilter Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung, einer nicht hierarchischen Kontrollstruktur, eines iterativen und diskursiven Prozesses der Meinungsbildung, eines pluralistischen[20] Spiels der Kräfte ohne »von oben« vorgegebene Zielfunktion und andere Merkmale der Demokratie, die besonders deutlich im Kontrast zur Fehleranfälligkeit autoritärer Systeme hervortreten. Er bestätigt in der Sicht der Demokratietheorie, was etwa zur selben Zeit vor allem im Ansatz des »systems dynamics«, aber auch in der Kybernetik und den frühen »cognitive sciences«, in der Hierarchietheorie oder in der Organisationstheorie verhandelt wird: eine zunehmende Skepsis gegenüber der Planbarkeit und Steuerbarkeit komplexer Systeme und der Versuch, unter den Stichworten Dezentralisierung, Enthierarchisierung, Heterarchie oder polyzentrische Struktur angemessenere Vorstellungen über die Steuerung und Selbststeuerung komplexer Systeme zu entwerfen.

      Aber die Euphorie über die Intelligenz der Demokratie hält nicht lange an. Bereits ein Dutzend Jahre später fragt Lindblom besorgt, ob die Demokratie noch eine Zukunft habe (Lindblom 1977, S. 344). In einer Studie, die interessanterweise ausdrücklich steuerungstheoretisch angelegt ist (ebd. S. 11), vergleicht er Tausch, Autorität und Überredung (exchange, authority, and persuation) als grundlegende Methoden sozialer Steuerung und Kontrolle. Aus einer wohlbegründeten Skepsis gegenüber der Steuerungsleistung des Marktes einerseits, aber auch autoritärer Regime andererseits, kommt er zu einer historisch vielleicht verständlichen, aus heutiger Sicht aber merkwürdigen Überschätzung der Steuerungsleistung von Überredung (preceptoral systems). Darauf will ich nicht näher eingehen (siehe aber Willke 1992, Kap. 2.3). Interessanterweise sieht Lindblom den zentralen Mangel von Demokratie als Steuerungsprinzip moderner Gesellschaften darin, dass es den marktförmigen Austausch- und Anpassungsprozessen des formal demokratischen Spiels nicht gelingt, das faktische Übergewicht organisierter Akteure, vor allem der großen Korporationen, zu korrigieren. Damit aber bricht die fundierende Idee demokratischer Steuerung – die Nutzung dezentraler Intelligenz für das kollektive Wohl und der Schutz der verteilten Entscheider vor der Übermacht einzelner Akteure – zusammen:

      »It has been a curious feature of democratic thought that it has not faced up to the private corporation as a peculiar organization in an ostensible democracy. Enormously large, rich in resources, the big corporations, we have seen, command more resources than do most government units. They can also, over a broad range, insist that government meet their demands, even if these demands run counter to those of citizens expressed through their polyarchal controls. … And they exercise unusual veto powers. They are on all these counts disproportionately powerful, we have seen. The large private corporation fits oddly into democratic theory and vision. Indeed,

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