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den Hinterhof, wo man nicht mehr an sie herankommt, wo sie unwichtig ist und keinen Einfluss mehr hat. Wir wollen diesen Plunder nicht, wir wollen ihn vergessen. Aber wie der erste Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschlands, Richard von Weizsäcker, uns mit dem von ihm zitierten Sprichwort bereits mahnte: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil – und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ So ist es auch mit der Trauer.

      Diese 5300 Kilometer, 140 Stunden dauernde Zugreise wurde zu einem Mikrokosmos meiner Arbeit: die Schaffung eines Raumes, in dem Trauer mit offenen Armen akzeptiert und geachtet wird und diese Anerkennung an erster Stelle steht. Mit diesem Buch lade ich Sie dazu ein, gemeinsam mit mir in die unzähligen Gesichter und Herzen der Trauer zu blicken, um zu unserer menschlichen Ganzheit zurückzufinden.

       Joanne Kyouji Cacciatore

       Sedona, Arizona, USA

      1

      Die Rolle der anderen in unserer Trauer

      Und wir weinten, dass ein so wundervoller Mensch nur so kurz leben sollte. William Cullen Bryant

      Ich lernte Kyles Mutter durch meine Arbeit mit trauernden Eltern kennen. Ihr 14-jähriger Sohn war von einem Querschläger getroffen und getötet worden. Auch wenn der Schuss nicht ihm gegolten hatte, so waren doch alle seine vierzehn Jahre ausgelöscht worden – durch einen Menschen, den man niemals finden und strafrechtlich verfolgen würde.

      „Ich hasse Trauern! Ich will es nicht mehr! Sorgen Sie dafür, dass es aufhört! Es bringt mich um!“ Karen schrie und weinte auf dem Boden meines Büros, während ich im Schneidersitz still neben ihr saß. Sie vergoss so viele Tränen, dass sie auf ihre beige Leinenhose tropften und Flecken ihrer blauen Wimperntusche darauf verteilten, die sie – in dem Versuch, irgendwie ihre Verzweiflung zu verbergen – jeden Morgen bei der Arbeit trug. Karen war alleinerziehend und Kyle war ihr einziges Kind gewesen, ihr „Ein und Alles“. Der Tag, an dem er starb, veränderte ihr Leben und ihre Identität, sagte sie. Sie fühlte sich von anderen unter Druck gesetzt, damit abzuschließen, und wollte sich wieder „normal fühlen“.

      Sie erzählte mir, wie ihr Cousin sie einem kinderlosen Kollegen als ebenfalls kinderlose Frau vorgestellt hatte. Das war für Karen eine Zäsur, die sie in die Isolation trieb. Ab diesem Moment sah sie sich nicht mehr als Mutter. Ihr Schlaf veränderte sich, sie hörte auf, in die Kirche zu gehen. Sie zog sich von Freunden zurück und fühlte sich in der Welt unsicher. Sie gab das Haus auf, in dem sie Kyle aufgezogen hatte, und zog in eine Wohnung in einem nahegelegenen Vorort.

      Sechs Monate nach Kyles Tod kam Karen zu mir und wünschte sich von mir, dass ich ihr helfen würde, ihre Trauer zu „überwinden“ und „sich besser zu fühlen“. Es lag etwas Verzweifeltes in unserem Gespräch, das mir sehr vertraut war. Sie fantasierte darüber zu sterben, um bei Kyle zu sein. Sie wollte nicht wirklich sterben, sondern wünschte sich nur mit aller Kraft, die Zeit zurückzudrehen. Sie wollte Kyle zurück. Seine Rückkehr war das Einzige, das ihr ihren unheilbaren Schmerz nehmen würde. Körper, Geist, Herz und Seele waren im Protestzustand.

      Oft sind wir kollektiv wie gebannt, wenn wir erfahren, dass jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist, wenn Todesfälle in den Medien thematisiert werden oder wenn ein Star stirbt. Diese Reaktion ist gang und gäbe, oft noch garniert mit öffentlichen Gefühlsergüssen und unpassenden Beileidsbekundungen wildfremder Menschen. Umgekehrt finden Todesfälle wie Kyles, die sich unter privateren, aber ebenfalls tragischen Umständen ereignen und nicht öffentlich bekannt werden, kaum Beachtung.

      In Karens Fall waren mitfühlende Gesten der Anteilnahme nur von kurzer Dauer. Ihre Mutterrolle wurde nach dem verfrühten Tod ihres Sohnes verleugnet, sodass sie irgendwann an ihrem eigenen Herzen zweifelte. Sie fühlte sich weiterhin als Kyles Mutter, aber der ständige gesellschaftliche Druck führte schließlich dazu, dass sie nicht nur ihrer Mutterrolle misstraute, sondern auch ihren rechtmäßigen Gefühlen, ihrer Trauer. Niemand erinnerte sich mit ihr an Kyle. Niemand sprach über ihn oder erkannte ihre Trauer an.

      Im scharfen Kontrast dazu waren die Leute völlig entsetzt, als Charlotte Helen Bacon in Newtown, Connecticut, schlagzeilenträchtig von einem Amokläufer getötet wurde, viele bekundeten ihre Trauer über ihren Tod, obwohl sie sie nie gekannt hatten.

      In der Sandy Hook Elementary School wurden 20 Erstklässler und sechs Angestellte der Grundschule ermordet. Es war eine Horrorgeschichte, die über Monate und Jahre immer wieder von den Massenmedien aufgegriffen wurde. Viele Menschen, die persönlich vom Tod eines Kindes oder eines anderen geliebten Menschen betroffen waren, fühlten sich der unaufhörlichen Berichterstattung hilflos ausgeliefert.

      Ich lernte Charlottes Eltern im Sommer 2014 kennen. Charlotte, ein kluges, mutiges und beharrliches Mädchen, das „ein bisschen frech“ und voller Lebensfreude gewesen war, wurde ermordet, als sie sich mit ihren Klassenkameraden in den Toilettenräumen der Schule verschanzte. Alle Kinder bis auf eines in den Toilettenräumen starben an diesem verhängnisvollen Tag. Charlottes Eltern Joel und JoAnn rangen mit dem tragischen Tod ihrer einzigen Tochter und widersetzten sich gleichzeitig der öffentlichen Ausschlachtung ihrer privaten Tragödie. In einem offenen Brief schrieb eine wütende, verletzte und frustrierte JoAnn:

      Am 14. Dezember 2012 hat jemand meine Tochter ermordet und damit ihre und meine Zukunft gestohlen. Sie wurde mit ihren Klassenkameraden in die Toilettenräume ihrer Schule gedrängt und niedergeschossen. Völlig schutzlos und wehrlos. UND ICH BIN WÜTEND. Meiner Erfahrung nach mögen die Leute Wut am allerwenigsten. Es gibt drei Arten, wie sie darauf reagieren: Entweder sie versuchen, meine Einstellung zu ändern und mich dazu zu bringen, „positiv zu denken“ und „das Gute zu sehen“, oder sie wechseln das Thema oder sie kommen gar nicht mehr vorbei. All das bringt mich nur noch mehr zur Weißglut. Es ist ein Teufelskreis. Ich kann meine Wahrheit aussprechen, dann sind alle pikiert und ergreifen die Flucht, oder ich kann so tun als ob, lächeln und nicken und mich dabei wie eine Heuchlerin fühlen. Beides ist furchtbar, und so oder so fühle ich mich isoliert und unverstanden.

      Ich möchte wirklich wissen, wie irgendjemand auf die Idee kommen kann, ich würde jemals mit der Ermordung meiner Tochter klarkommen? Ich bin empört und will schreien: „Warum seid ihr nicht empört?“ Und was das Gute angeht, das ich doch sehen soll: Diesen Weg wollt ihr sicher nicht mit mir gemeinsam gehen. Ihr könnt gern das Gute sehen, ich sehe davon gerade nicht sehr viel. Ihr braucht mir auch nicht zu erzählen, dass aus großen Tragödien auch immer Großes erwächst. Ich will nicht hören, dass ihr durch den Tod meiner Tochter irgendwas Tiefgründiges gelernt oder getan habt. Meine Tochter ist nicht auf die Welt gekommen, um durch ihr Ableben neue Perspektiven zu schaffen. Charlotte war hier, weil sie gewollt war, geliebt wurde und dieser Welt zu ihren Lebzeiten etwas zu geben hatte. Alles andere fühlt sich an wie Beschwichtigung – und es tut weh. Nichttrauernde suchen gerne Inspiration, den Silberstreif am Horizont, das triumphale Ende. Ich hasse es, erzählt zu bekommen, ich sei eine Inspiration. Mir wird schlecht davon. Ich bin eine trauernde Mutter.

      JoAnn spricht wichtige Punkte an, wie andere Menschen unsere Trauer wahrnehmen. Das kann viele Gefühle in uns aufwühlen und unsere Trauererfahrung noch komplizierter machen. Für JoAnn ist die ausgesprochene oder stillschweigende Annahme, Charlottes Tod sei dazu da, andere zu inspirieren oder eine bessere Welt zu schaffen, nicht hilfreich. Welches „Vermächtnis“ ihr Tod auch immer haben mag, für ihre Familie ist der Preis viel zu hoch. Und den tiefen, absoluten Schmerz nicht anzuerkennen, der ihrem „neuen“, so nicht gewünschten Leben vorausgegangen ist, ist respektlos.

      Unsere kulturellen Normen befördern eine unerklärliche Doppelmoral, die oft großen Schaden bei Trauernden anrichtet. Tragödien, die man für würdig erachtet, erhalten Aufmerksamkeit, woraufhin dann oft fremde Menschen diese Todesfälle an sich reißen und für sich eine Trauer beanspruchen, die nicht die ihre ist. Persönliche Trauer ist unerwünscht, ja sogar verpönt, wenn sie über eine kurze Zeitspanne hinausgeht. Noch Jahre später erinnert man in unserer Gesellschaft gerne öffentlich an private Tragödien, ohne die persönlich Betroffenen vorher um ihre Einwilligung gebeten oder Rücksprache mit ihnen gehalten zu haben. Wenn ein Verlust hingegen nicht dramatisch genug ist, die

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