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in den Sinn gekommen: „Wer während einer Meditation noch nie geweint hat, der hat noch nicht richtig meditiert.“ Wir hatten Kerzen angezündet und uns erinnert. Wir hatten einander gehalten. Einige hatten nur wenige Wochen vor dem Workshop geliebte Menschen verloren, andere schon Jahrzehnte zuvor.

      Ich war zum Wohnsitz der Familie Bacon in Newtown, Connecticut, gefahren und dieselben Holzdielen hinuntergestiegen wie die Erstklässlerin Charlotte Helen Bacon vor dem tragischen Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School [bei dem 100 km von New York entfernt im Dezember 2012 insgesamt 28 Menschen starben, Anm. d. Übers]. Ich hatte ihren Bruder getroffen und er hatte für mich ein Exemplar des Buches signiert, das er im Gedenken an seine ermordete kleine Schwester geschrieben hatte. Ihre Eltern und ich hatten ihr Grab besucht, nah bei ihren Freunden, und wir hatten schweigend davorgestanden. Was gibt es auch zu sagen angesichts einer unaussprechlichen Tragödie?

      Ich war nach New York gereist, wo ich Gesundheitsdienstleister angeleitet hatte, trauernden Menschen zuzuhören, eine Schicht nach der anderen aufzuarbeiten. Mehrere Tage hintereinander hatten sich Menschen, deren Aufgabe es sonst war, anderen zu helfen, ganz von Neuem mit ihrem eigenen seelischen Schmerz befasst. Einige empfanden ihre latente Trauer wie ein verblichenes Foto, das vom jahrelangen Anfassen an den Rändern schon ganz abgenutzt war, und wie ihre Klienten brauchten auch sie einen sicheren Ort, um sich mit ihren alten Wunden auseinanderzusetzen.

      Auf der Konferenz hatten trauernde Mütter über ihre Erfahrungen mit dem Verlust gesprochen und geschildert, wie sie ihrer Kinder gedachten, indem sie anderen Menschen halfen – und die kleinen Kinder, deren Andenken sie bewahrten, wurden für uns alle zu großartigen Lehrern des Mitgefühls. Eine Mutter hatte uns beschrieben, wie sie nach dem unerwarteten Tod ihres Babys mit Gewalt fixiert werden musste – nun hilft sie trauernden Eltern auf der ganzen Welt. Eine andere Frau hatte erzählt, wie sehr sie mit Schuldgefühlen rang, weil durch ihr Handeln, wenn auch unbeabsichtigt, ihre Tochter ums Leben gekommen war. Jetzt lässt sie sich zur Trauerberaterin ausbilden. Eine weitere Frau hatte die Ereignisse geschildert, die zur Ermordung ihrer beiden kleinen Kinder geführt hatten, und über ihre jetzige Arbeit gesprochen, bei der sie Eltern Hilfe anbietet, deren Kinder ebenfalls ermordet wurden.

      Ich hatte viele Geschichten über Liebe, Verlust und Trauer gehört, manchmal mutig vor Gruppen vorgetragen, manchmal in Form von leisen Geständnissen im hinteren Teil eines Raumes. Einige Menschen kontaktierten mich Stunden oder Tage später vergleichsweise anonym per E-Mail; ihre Trauergeschichten waren wie Keimlinge durch im Laufe der Jahre festgetretene Erde gebrochen.

      Als ich jetzt den Zug bestieg und zurück nach Hause fuhr, sann ich über eine mysteriöse Eigenschaft der Trauer nach: Wenn wir jemandem in die Augen schauen, der Leid erfahren hat, dann wissen wir ohne ein einziges Wort, dass der andere es weiß, und es liegt etwas schmerzlich Erholsames in diesem gegenseitigen Erkennen.

      Im Zug ergaben sich immer wieder Gespräche, die erst einfach begannen und dann schnell zu einem tiefen, bedeutungsvollen Austausch über Liebe und Verlust, Leben und Tod wurden. Ein junger Mann mit ruhigen Augen und einem strahlenden Lächeln erzählte mir, dass er hilflos mitansehen musste, wie sein Freund von einem Zug erfasst und getötet wurde, und er bemerkte sichtbar traurig, dass das Ereignis nun schon fast ein Jahr her war. Nach einem kurzen Gespräch mit einer jungen Mutter und ihrem kleinen Jungen über die Herausforderungen des Zugreisens mit Kleinkindern fragte sie mich, was ich beruflich machte. Ich sagte es ihr, woraufhin sie mir vom Tod ihres ältesten Bruders erzählte und dass ihre Mutter seit diesem Verlust nicht mehr dieselbe war, weil in der Familie die unausgesprochene Regel galt, nicht über den Tod des Jungen zu sprechen und daher nichts über sein Leben oder ihre Liebe zu ihm zu sagen.

      Eines Morgens beim Frühstück saß ich einem älteren Mann aus Südkalifornien gegenüber, der eine Kappe eines Traktorherstellers trug und einen ausladenden Bauch hatte. Wir kamen ins Gespräch und irgendwann blickte er von seinem griechischen Joghurt auf und sagte: „Ich weiß eine ganze Menge über Trauer und Traumata“, woraufhin er begann, über seine Dienstjahre in einer SWAT-Einheit zu erzählen. „Sie glauben nicht, was ich alles gesehen habe“, sagte er und schilderte so traumatische Erlebnisse, dass sie ihn auch noch fünfunddreißig Jahre später beschäftigten. „Ich war immer stark, die Ruhe selbst. Ich vergoss nie eine Träne … aber seit ich in Rente bin, kommt es mir vor, als wäre ich ständig am Heulen und nah am Wasser gebaut.“ Ich nickte und fand es angebracht zu fragen, wann er denn angefangen hatte, sich so zu fühlen. Er hielt inne und blickte hinauf zur Decke. „Hm, keine Ahnung. Ich habe einfach noch nie so viele und so tiefe Gefühle gehabt. So langsam frage ich mich, ob mit mir was nicht stimmt.“ Aber am Ende unseres Gesprächs kam er zu dem Schluss, dass dieser Gefühlsansturm jetzt „wahrscheinlich normal“ war, weil man „damals bei der Arbeit keine Schwäche zeigen oder heulen durfte.“

      Ein anderer Mann aus St. Louis erzählte mir eines Morgens bei einem Porridge vom Tod seiner ersten Frau. Er hatte sich kaum Zeit zum Trauern gelassen und wenige Monate später wieder geheiratet, weil er „zu traurig war, um das alles allein zu ertragen“. Doch seine Trauer ließ sich einfach nicht vertreiben, und zwei Jahre später ließen er und seine zweite Frau sich nach der Geburt ihres ersten Kindes scheiden, woraufhin er zu trinken begann und den Kontakt zu seinem einzigen Nachkommen verlor. Der Schmerz über alle diese Verluste hatte sich ihm in tiefen Linien ins Gesicht gegraben.

      Ich traf eine 78-jährige pensionierte Krankenschwester aus Dayton, als sie sich gerade über das kärgliche Teeangebot der Eisenbahngesellschaft beschwerte. Ich erzählte ihr, dass ich auch ein Tee-Snob sei und deshalb meine eigene Bio-Mischung dabeihätte. Ich bot ihr etwas davon an und sie fragte, was ich denn an der Ostküste machte. Als ich es ihr sagte, senkte sie den Blick auf ihre dampfende Tasse Earl Grey. Sie spitzte die Lippen, nahm mit sichtbarem Unbehagen einen Schluck und stieß dann einen langen Seufzer aus. „Wissen Sie, ich hatte eine Tochter“, sagte sie. „Sie wäre jetzt etwa in Ihrem Alter.“ Sie seufzte erneut – und dann, auf der Fahrt vorbei an Gebirgszügen, mit Graffiti bemalten Brücken und hier und da ein paar Baumwollfeldern, erzählte sie mir über zwei Stunden lang die Geschichte ihrer Tochter, die 1974 gestorben war. Es war eine Geschichte, die sie noch nie jemandem vollständig erzählt hatte. Als sie fertig war, sagte sie: „Ich glaube, meine Tochter wäre genau so eine nette junge Frau gewesen wie Sie.“ Wir hatten beide Tränen in den Augen.

      Meine Reisen nach Osten und zurück nach Hause schienen mir symbolisch für viele Reisen durch Liebe und Trauer. Durch das Fenster an meinem Platz sah ich verlassene Spielplätze und verfallene Scheunen direkt neben frisch gestrichenen Schulen und florierenden Bauernhöfen. Ich sah ausgetrocknete Flussbetten und üppig bewachsene Ufer. Ich sah sterbende Tümpel und grüne Bäche. Manchmal war die Fahrt turbulent und ruppig, dann wieder ruhig und beschaulich.

      Wie die Trauer hatte auch der Zug seinen eigenen Rhythmus, seine wechselnden Geschwindigkeiten und veränderlichen Bedingungen – beeinflusst vom Wetter, von einer guten oder weniger guten Wartung und von den Landstrichen, durch die wir fuhren. Manchmal schienen wir ganz langsam dahinzukriechen, und ich konnte mich ganz auf die Silos von Garden City oder die Antilopenherde im Comanche National Grassland konzentrieren. Dann wieder verwischte das hohe Tempo auch die majestätischsten Bäume, vermengte Farben und ließ Konturen verschwimmen.

      An manchen Stellen auf der Strecke konnte eine einfache Weiche unsere Fahrtrichtung ändern, was mich daran denken ließ, wie wir uns bei einem Todesfall in Richtung Verdrängung oder Liebe wenden können, Richtung Trauer oder Verleugnung. In Tunneln war es manchmal so dunkel, dass absolut kein Licht mehr zu sehen war; auch die Trauer kennt solche Zeiten. Meine Augen brauchten Zeit, um sich daran anzupassen, aber dann konnte ich erkennen, was sich an diesen dunklen Orten befand. Manchmal hatte mein Handy Empfang, manchmal nicht; manchmal hatte ich eine Verbindung zur Außenwelt, dann wieder war jede Verbindung gekappt – wie auch bei der Trauer.

      Beim Blick aus dem Fenster begann mir irgendwann auch der Kontrast zwischen Vor- und Hintergärten aufzufallen. Die Vorgärten imponierten mit sorgfältig gepflegtem Rasen und akkurat getrimmten Hecken, blitzsauberen Autos und leuchtend roten Fahrrädern. Die Hintergärten sahen aus wie Schrottplätze mit ausrangierten Dingen, die die Leute nicht mehr brauchten und nutzlos fanden. Was hinterm Haus lag, war unerwünscht, in Einzelteile zerlegt, kaputt oder in Vergessenheit geraten. Manches verrottete dort schon seit Jahren,

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