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vertragen. An dieser Stelle muss ich Mikhaïl Romm vorstellen, den ich bereits zitiert habe. Der ehemalige Fußballspieler, von der italienischen Presse colosso russo genannt, wurde Sportredakteur, ihm verdanken wir den Bericht über diese erste Expedition. Sein Text wurde im Zuge der stalinschen Zensuren mehrmals editiert. Ich konnte leider bei den Moskauer Antiquaren nur die letzte Ausgabe ausfindig machen, die – ihres ursprünglich unbefangenen Tons beraubt – in Tausenden Exemplaren verbreitet wurde. Ich habe sie parallel mit Jewgeni Abalakows offiziellen Reisetagebüchern verwendet. Trotz gewisser Abweichungen stimmen die beiden Texte im Wesentlichen überein, wobei sie zwei unterschiedliche Sichtweisen mitbringen: die eine von oben, die andere von unten. Romm war kein Bergsteiger.

      Weder Romm noch Gorbunow sind übrigens von Anfang an bei der Expedition dabei. Sie werden später dazustoßen. Nur von Jewgeni erfährt man etwas über die ersten Schritte der Kamelkarawane, die mit zweieinhalb Tonnen Ausrüstung beladen ist. Alle Teilnehmer erhalten einen Nagant-Revolver und sie üben sich mit den Soldaten der Roten Armee, die ihnen Geleitschutz geben, im Schießen. Die Gegend wird immer wieder von aufständischen Basmatschi7 heimgesucht, die sich in die Festung des Pamir geflüchtet haben. Die Hochtäler sind noch nicht ganz Moskau ergeben. Jewgeni und seine Kameraden sind die Aufklärer des Sozialismus in den letzten Bastionen der alten Welt. In einem Text habe ich folgende Aussagen gefunden, die einem Banditen zugeschrieben werden: „Wir sind gekommen, um Sie zu bestehlen, aber Sie haben uns Essen gegeben und Vertrauen entgegengebracht“, […] „guter tapferer russischer Mann“!

      Der Pamir ist eine der kontinentalsten und abgelegensten Gegenden der Welt. Der Anmarsch verspricht beschwerlich zu werden. Er beginnt mit der Überschreitung eines Passes in der trockenen und für die Alai-Kette charakteristischen Kulisse. Jewgeni schmückt seine Notizen hie und da mit der Erwähnung von Wacholder oder Sanddorn. Müde davon, auf ihren Reittieren so durchgeschüttelt zu werden, fangen viele seiner Kameraden an, neben ihren Pferden herzulaufen, bis der Abend sie zwingt, eine Weide für die Kamele zu finden, die in die Hocke gehen. Manchmal flieht in der Ferne ein verdächtiger Reiter, verfolgt von einer Schwadron der Roten Armee. Während der Nacht muss man dann nur mit einer Granate bewaffnet Wache halten.

      Die Basmatschi sind jedoch nicht die einzige Gefahr. Romm erzählt, dass das eiskalte Schmelzwasser der Gebirgsbäche unter der brennend heißen Sonne und das Labyrinth der Furten über die unzähligen geröllführenden Flussarme mehr Männer umgebracht haben als die versteckte Guerilla. Von den Polargebieten abgesehen ist der Fedtschenko, zu dem sich Jewgeni und seine 29. Einheit hinbewegen, der längste Gletscher der Welt. Alles andere besteht aus Gesteinsflächen, kargen Felsen und Höhenwüsten. Eine makellose ockerfarbene Welt unter dem Feuer eines tiefblauen Himmels.

      In einem Jurtenlager, letztes Zeugnis einer nomadischen Menschheit, rekrutieren sie mit Schwierigkeiten sechs Träger, die über ihre Ausrüstung staunen. Träger? Verbietet der Kommunismus nicht die Ausbeutung des Menschen, sei es nun ein „Sherpa“ oder ein Hausangestellter? Die angeworbenen Tadschiken und Kirgisen haben keine Erfahrung im Hochgebirge und doch schließen sie sich der Karawane an, die sich auf die schwarze Zunge des riesigen Fedtschenko-Gletschers wagt. Tag für Tag muss ein achtzehn Kilometer langer Weg angelegt, müssen Stufen für die Pferde geschlagen, die Moränen mit steinernen Wegzeichen markiert werden. Es gibt wenig Weiden, die Soldaten kehren um, die Expedition teilt sich in kleine Gruppen auf. Jewgeni und seine Kameraden zerstreuen sich in die benachbarten Täler, um Wildschafe zu jagen, ohne großen Erfolg. Abends im Biwak schreibt er in sein Reisetagebuch oder zeichnet Skizzen von den unberührten Gipfeln, die den Himmel bevölkern.

      Es ist nun einen Monat her, dass sie Osch verlassen haben. Sie müssen sich noch einen Weg durch das Chaos eines Nebengletschers bahnen, auf den sie abbiegen, bevor sie am 8. Juli auf einer Höhe von 4600 Metern das Basislager festlegen. Das Zeltdorf nimmt langsam Gestalt an, als nach und nach die verstreuten Teile der Karawane eintreffen. Von ihren Zelten aus betrachten alle die einschüchternde Nordostwand des Pik Stalin, den sie besteigen müssen. Sie müssen es tun, es ist ihre Pflicht. Von überall hört man das Echo der herabstürzenden Steine und Séracs. Von der ersten Nacht an schreibt Jewgeni, dass er von Lawinen geweckt wird.

      Die ersten Besteigungsversuche sind nicht überzeugend. Sie leiden unter Kopfschmerzen, Zweifel macht sich breit. Bei der Erkundung im Vorjahr war Gorbunow nur bis 5900 Meter gekommen. Bis zu seiner Ankunft wird die Truppe vorübergehend von Arkadi Charlampiew geleitet, seinerzeit ein bekannter Boxer. Das magere Aufgebot sowjetischer Alpinisten schöpft aus anderen Sportarten seine Leute und Jewgeni genießt beachtlichen Einfluss. Er bringt die Expedition in Schwung, die bald den Nordgrat erreicht, wo sie vor den Staublawinen geschützt ihr erstes Höhenlager aufschlägt. Es folgen heikle Biwaks in Zwei-Mann-Zelten, in die man zu dritt hineinschlüpfen muss, unzählige Auf- und Abstiege zwischen den Lagern und der erste Todesfall. Beim Passieren eines Gendarms wird der Bergarbeiter Nikolajew Opfer eines Steinschlags. „In dieser Nacht hat keiner geschlafen“, gesteht Jewgeni.

      Die Gendarme (das Wort ist im Russischen gleich) sind gefährliche, turmähnliche Felszacken, die den Gratverlauf unterbrechen. Soweit es möglich ist, muss man sie umgehen, ansonsten sie über den Grat überwinden. Jewgeni ist für diese Aufgabe wie geschaffen. Er ist in der führenden Dreierseilschaft, begleitet von einem weiteren Boxer, Alexandre Guettier, und dem Automobilarbeiter Danil Guschin. Mit Letzterem hat Jewgeni vergangenen Winter im Rahmen eines Trainingsaufenthalts am Elbrus schon Erschreckendes erlebt. Bei Temperaturen von minus vierzig Grad Celsius waren sie gezwungen, den Leichnam eines Kameraden hinter sich herzuziehen, der in der unermesslichen Eiswüste erfroren war. Bis zu dem Moment, als Jewgeni selbst im tobenden Sturm mit dem Leichnam in eine Gletscherspalte rutscht. Danil Guschin gelingt es vorerst, den Sturz zu stoppen, doch als er merkt, dass auch er hoffnungslos dem Abgrund aus Eis entgegengleitet, durchtrennt er schließlich das Seil …

      Zweifellos ist es ein merkwürdiges Gefühl, wieder mit einem Kerl am Seil zu gehen, der einst nicht zögerte, dein Schicksal zu besiegeln. Am Elbrus damals konnte sich Jewgeni im letzten Augenblick noch an einem Vorsprung festhalten. So ging die Nacht vorüber, Guschin an der Oberfläche des Gletschers, Jewgeni in seinem Inneren und die sterbliche Hülle ihres Freundes über dem Abgrund hängend. Am Morgen gelang es dem einen dem anderen zu helfen. Sie stiegen zur Schutzhütte ab, um Hilfe zu holen und schließlich den dritten Kameraden zu bergen. In den Wänden des Pik Stalin werden sie diesmal vielleicht nicht dasselbe Glück haben. Im Augenblick zeigen sich die Symptome der Höhenkrankheit. Keiner von ihnen hat bisher die 6000-Meter-Grenze überschritten. Eine ganze Woche lang kämpft das Trio damit, an den Gendarmen Haken und Fixseile anzubringen. Am Fuß des vierten Turms angekommen, haben sie den Grat so weit ausreichend mit Sicherungen versehen und steigen wieder ins Basislager ab.

      Dort hat sich mit Morgengymnastik und erfrischenden Bädern im nahen Schmelzwassersee die Routine eingestellt. Die Sowjets bleiben menschlich, ihre Berichte erzählen auf jeder Seite von Nahrungsmitteln: Kondensmilch, nach der sie verrückt sind, Konserven, Suppen, Kascha8. Außerdem muss man bei Schlechtwetter die Zeit totschlagen. Jewgeni liest Eugen Onegin oder Die Hauptmannstochter von Puschkin. Wenn er nicht den Trägern das Klettern zeigt oder viel Zeit damit verbringt, mit dem binokl9 die senkrechten Wände abzusuchen. Abends ertönen Lieder, eine Flasche Cognac hat das Gerüttel der Karawane überlebt und jemand trägt in der Stille der Nacht Majakowski-Verse vor. Alle warten auf die Ankunft von Nikolai Gorbunow, ehemals persönlicher Sekretär Lenins, der irgendwo von den angeschwollenen Gebirgsbächen aufgehalten wird …

      Jewgeni nutzt die freie Zeit, um seinen Blick auf den Pik Woroschilow oder die Wand der Roten Arbeiter- und Bauernarmee zu richten. Er steigt etwas auf und dann, völlig allein in der Pracht dieser Berge, zeichnet er die Landschaft; geblendet von den Meringen aus Eis, vom Schnee, der die Granitwände wie Gips überzieht, vom Spiel aus Ocker und Weiß. „Der Pik GPU10 ist ein Berg aus Marmor“, beobachtet er. Kalt, wie es zur Staatspolizei nur zu gut passt … Auf der linken Seite erhebt sich in vielen Farben ein namenloser Gipfel. „Lange haben wir mögliche Namen gesucht und ihn dann Pik Menschinski getauft“, schreibt Jewgeni weiter. „Wir“? Wirklich? Wohl eher ein politischer Kommissar der Expedition. Menschinski ist kein anderer als der ehemalige Leiter der GPU. Jewgeni und seine Freunde machen danach den „Vorschlag“, einen Gipfel zu Ehren des am Elbrus erfrorenen

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