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Stalins Alpinisten. Cédric Gras
Читать онлайн.Название Stalins Alpinisten
Год выпуска 0
isbn 9783702239732
Автор произведения Cédric Gras
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
An der Universität lernen die Brüder Abalakow die Grundlagen einer neuen Ordnung kennen. Die Revolution behauptet, einen Musterbürger zu schmieden, so wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Sie ist der Urknall einer neuen Welt, eines Universums, das sich im Namen der Internationalen immer weiter ausdehnt. Witali und Jewgeni gehören vielleicht nicht gerade zu denen, die den Marxismus Wort für Wort befolgen, und doch wird die UdSSR ihr Land, und nicht mehr Russland, denn die Sowjetunion ist ihre Epoche. Man muss verstehen, dass ein Ort nichts ist ohne ein Datum, dass das Eurasien der Zwanzigerjahre heute ein versunkener Kontinent ist. Und dass die beiden sich darauf vorbereiten, das Banner einer wunderbaren Utopie auf den höchsten aller Gipfel zu setzen.
Ich erinnere mich an eine großartige Passage in Iwan Bunins Das Leben Arsenjews. Eine Kämpferin von großer Schönheit, die sich von der Natur übervorteilt sieht, versucht sich zu verstümmeln, um mehr Gleichheit unter ihresgleichen herzustellen. Ich habe nie mehr eine passendere Allegorie für diese fanatische und selbstzerstörerische, jedoch Berge versetzende Revolution gefunden. Können wir uns das vorstellen, wir, für die der Sozialismus vor allem eine Art ist, unseren Lebensstandard zu rechtfertigen? Wir, die das Elend beklagen und dabei auf nichts verzichten wollen.
Ich habe keinen Zweifel, dass Witali in den 1920er-Jahren in einer Art streberhaftem Wettstreit lebt, während Jewgeni eine gewisse Moskauer Boheme für sich entdeckt. Sie bleiben jedoch die besten Komplizen, sobald es um ihre Eskapaden geht. Die sich in der Entwicklung befindende Hauptstadt und ihr urbaner Horizont können ihre Sehnsüchte nicht vollends stillen. Viel mehr als von Moskau träumen sie davon, sich an den Steilwänden des Kaukasus zu messen. Im Winter trainieren sie an den Leninbergen. Heute nennt man sie die Sperlingsberge, auf deren Anhöhe die renommierte Lomonossow-Universität steht. Doch zu jener Zeit gab es noch keinen einzigen dieser schwindelnd hohen Wolkenkratzer, die die „Sieben Schwestern Stalins“ genannt werden.
Alles musste erst erbaut werden.
DIE GESELLSCHAFT FÜR PROLETARISCHEN TOURISMUS
Mittlerweile sind die Brüder 25 und 24 Jahre alt. Witali ist diplomierter Maschinenbauingenieur und Jewgeni hat die Kunstakademie abgeschlossen. 1931 muss man sie sich in einem Zug vorstellen, der in die kleine kaukasische Republik Kabardino-Balkarien fährt. Die Brüder Abalakow sind kräftige und starke junge Männer geworden. Jewgeni ist noch stämmiger als sein großer Bruder, mit tiefblauen Augen, hellbraunem Haar wird er als immer heiter beschrieben. Witali seinerseits spricht schnell und scharf, er hat einen ungestümeren Charakter. Er hat ein schmales Gesicht, das später faltig wird und nie rund. Seine knochige Gestalt spiegelt die Askese wider, der er sich verschrieben hat. Seine Kahlheit schreitet voran, aber noch hat er nicht diesen Kahlkopf mit abstehenden Ohren, der der Nachwelt bekannt ist.
Eine junge Frau, Valentina Tscheredowa, ist mit dabei. Sie ist ebenfalls aus Krasnojarsk, auch sie hat das Klettern an den Stolby gelernt. Sie ist Witalis Jugendliebe. Ein erstes Herzklopfen, das ewig bleibt. Die ganzen Studienjahre lang hat Valentina brav in Sibirien am Ufer des Jenisseis gewartet. Es sei denn, sie lebte die freie Liebe, um gegen die überholten bourgeoisen Sitten aufzubegehren. Wer weiß? Wie dem auch sei, schließlich zog sie zu ihrem Zukünftigen in die Hauptstadt. Das ist der Lauf der Dinge in Sachen Ehe in diesem weiten Land. Hier ziehen die jungen Männer als Aufklärer den Trugbildern der Großstadt entgegen. Wenn sie dort einmal Fuß gefasst haben, lassen sie ihre Verlobten nachkommen, die sie im hintersten Winkel des trostlosen Flachlandes zurückgelassen haben und die befürchten, von einer eleganten Dame auf einem Moskauer Boulevard in den Schatten gestellt zu werden.
Witali hat Valentina nicht vergessen. Sicher betrachtete er am Abend nach seinen Kursen die sportliche und kräftige junge Frau, die zu Beginn der UdSSR und ihres Lebens posiert, ein Moment, den ein schmachtender Verehrer auf einem Sepiafoto verewigt hat. Mit ihrem Bubikopf ist sie der Inbegriff einer jungen und emanzipierten Kommunistin. Jetzt, da sie zivilrechtlich verheiratet sind, rollt der Zug in Richtung Kaukasus. Diesen haben Witali und Jewgeni nur das eine Mal im vorigen Sommer von den üppigen Ufern des Schwarzen Meers aus gesehen. Keiner von ihnen hat jemals einen Fuß auf einen Gletscher gesetzt. Sie sind nicht in Tälern groß geworden, nicht im Schatten schwindelnd hoher Berge geboren. Sie sind in den unendlichen Ebenen auf die Welt gekommen, die einen an Galileo zweifeln lassen, am Ufer des Jenisseis. Dieser Fluss durchzieht den gesamten Bauch Eurasiens, mächtig, glatt, faszinierend ist er das einzig Bemerkenswerte in dieser Landschaft.
Drei Tage auf Schienen. Die Sibiriaken kennen das Zugfahren. Sie verbringen ganze Monate ihres Lebens im Zug. Bis dahin sind die Brüder Abalakow fast jeden Sommer nach Krasnojarsk zurückgekehrt. Wochenlanges Reisen, natürlich um Valentinas schöner Augen willen, aber auch, um ihrem Abenteuergeist Freiraum zu geben, ermöglicht durch die Ersparnisse, die der Ingenieur Witali mit seinen ersten Patenten erwirtschaften konnte. Der Künstler Jewgeni verdient noch keinen müden Heller. Nichts Neues unter der Sonne, selbst wenn sie kommunistisch war, und sicherlich nichts, das ihre Eintracht stören könnte. In diesem Alter scheinen sie unzertrennlich zu sein, wie sie wochenlang in die unbekannten Gebirgsmassive des Altai oder Sajan vorstoßen.
Es wäre ein zu großer Exkurs, von diesen äußerst wilden initiatorischen Streifzügen zu erzählen. Ich würde einfach sagen, dass sie die Brüder Abalakow definitiv geprägt haben. Die Bären sicherlich, aber auch die zugefrorenen Flüsse, die Nächte auf einer von der Glut aufgewärmten nackten Erde, die „ohne jeden Nagel“ zusammengebauten Flöße. Welch strahlende Jugend, die ihre Schritte nach den Sternen oder dem Kompass richtet und sich zu den Quellen des Jenisseis aufmacht! Jewgeni wird darüber schreiben: „Unsere Vorräte waren aufgebraucht, wir ernährten uns von Kräutern und Beeren … Die meiste Zeit schwammen wir neben dem Floß, das in den Stromschnellen überschwemmt wurde … Wir haben uns definitiv das Reisevirus eingefangen.“
Und dieses Mal endlich der Kaukasus! Der Zug bremst laut an der Endstation, an der Pforte zum Orient, die die Russen so sehr fasziniert. Valentina, Witali und Jewgeni treffen in Naltschik ein, von wo aus man den 5642 Meter hohen Vulkan Elbrus schimmern sieht. Sie beziehen ihr Quartier in den mehr als dürftigen Unterkünften der Gesellschaft für proletarischen Tourismus4. Anders gesagt: Sie richten sich voller Freude in einem Aul ein, jenen seit Urzeiten unveränderten Steindörfern der balkarischen Hirten. Was für ein Name, diese Gesellschaft für proletarischen Tourismus! Sie wurde gerade von einer Handvoll Lenins ehemaliger Exilgenossen gegründet. Als sie in den Schweizer Bergen auf eine Revolution warteten, die selbst Wladimir Iljitsch nicht mehr zu erleben glaubte, brachen einige zu Gipfeltouren auf, manche beabsichtigten sogar, die Bergführerprüfung abzulegen. Nun ist es ihr Ziel, jungen Sowjets die Kunst des Bergsteigens beizubringen, und zwar in ihren eigenen Bergen, auch wenn sie es weiterhin alpinism nennen.
In Auf kühner Reise – Von Moskau in den Kaukasus5 teilt die Schweizer Abenteurerin Ella Maillart die plötzliche Begeisterung der Sowjets für Sport im Freien. Die Verfassung garantiert den Arbeitern ein Recht auf Urlaub und in den Fabriken sind proletarische Wandersektionen entstanden. Es geht darum, sich das gewaltige Territorium der Union im Zeichen der „sozialistischen Vaterlandsliebe“ anzueignen. Die hohen Berge sind nicht mehr wie zur Zarenzeit nur der Aristokratie vorbehalten, sondern gehören von nun an dem Volk! Auch wenn es vor allem Studenten sind, die, mit dem Segen der Partei, leidenschaftlich gern Bergsteigen gehen. Ella Maillart zieht mit einigen von ihnen los, wobei sie fast von einem Balkaren entführt wird. Sie beobachtet die „Bildungspropaganda“, die Wanderkinos, oder notiert die Absicht, die kaukasischen Völker von ihren mittelalterlichen Bräuchen und Vendettas loszureißen, um sie zu modernem Wohlstand zu führen. Das sind die Tugenden der Oktoberrevolution …
In der Alpinismussektion der Gesellschaft für proletarischen Tourismus lernen die Brüder Abalakow und Valentina, angeleitet von ein paar Kameraden, die kaum mehr wissen als sie selbst, schnell dazu. Die Gesellschaft ruht einzig und allein auf der Begeisterung ihrer Mitglieder (Pessimismus ist nämlich ein spießiger Makel), auf der Unterstützung einiger Bolschewiken, auf wenigen langen Eispickeln, Steigeisen ohne Vorderzacken und einfacher Technik. Auch wenn die Brüder Abalakow in den Stolby ohne Seil und Haken kletterten,