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Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit. Marta Fata
Читать онлайн.Название Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit
Год выпуска 0
isbn 9783846354148
Автор произведения Marta Fata
Жанр Документальная литература
Серия Einführungen in die Geschichtswissenschaft. Frühe Neuzeit
Издательство Bookwire
2.3 Alte und neue Formen der geografischen Mobilität
Mithilfe ihrer Navigations- und Schiffstechnik erkundeten die Europäer seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts permanent neue Gebiete, legten große Entfernungen zurück und unternahmen lange Reisen. Immer mehr Menschen überquerten auch den Atlantik. Das Schiff, auf den Illustrationen in den Amerika-Berichten, auf den See- und Landkarten oder in Form von kunstvollen Objekten dargestellt, wurde zum Inbegriff der neuen Zeit (vgl. Abb. 3).
Fallbeispiel: Das Schlüsselfelder-Schiff (Abb. 3)
Das Schiff symbolisierte um 1500 ganz im Sinne der mittelalterlichen Vorstellung noch immer die transzendente Pilgerreise des Christen auf Erden. Zugleich stand es auch für das Verkehrs- und Transportmittel, durch das die Umsegelung der Welt und transkontinentale Wanderungen erst möglich wurden. Es versinnbildlichte die tatsächliche Aneignung der Welt und somit die mentale Überschreitung der Grenzen, wie sie noch für das Mittelalter konstitutiv gewesen waren. Der aus vergoldetem Silber angefertigte Tafelaufsatz aus Nürnberg, das eine zeittypische Karacke mit insgesamt 74 Figuren als Besatzung und Passagiere darstellt, ist ein repräsentatives Trinkgerät. Es wurde zur Zierde einer festlichen Tafel bestimmt und demonstrierte Status und Reichtum seines Eigentümers.
Abb. 3 Das Schlüsselfelder-Schiff, Nürnberg um 1503.
Voraussetzung der stetig zunehmenden Wanderungsbewegungen bildeten erschlossene Seewege, kontinentale Wasser- und Landstraßen und die auf ihnen verkehrenden Verkehrs- und Transportmittel. Die beiden wichtigsten Transportmittel für Waren und Menschen in der Frühen Neuzeit, das Schiff und der Wagen, wurden schon seit der Antike benutzt, erfuhren aber durch die Dynamik der Wanderungsbewegungen in der Frühen Neuzeit einen gewissen Modernisierungsschub.
Entscheidend für die Entwicklung der Hochseeschifffahrt wurde einerseits die Verwendung von Dreimastern mit variabler Besegelung, die das Kreuzen gegen den Wind und somit die Hochseeschifffahrt überhaupt erst ermöglichten, andererseits der Übergang zur Kraweelbeplankung der Schiffe, die eine bessere Dichtigkeit bewirkte und den Bau größerer Schiffe ermöglichte. Im ausgehenden 15. Jahrhundert war die portugiesische Karavelle der bekannteste Schiffstyp dieser Bauweise, mit der eine Reise über den Atlantik etwa zwei bis drei Monate dauerte. Als die kleineren Karavellen für den regelmäßigen Transport und die sichere Fahrt nicht mehr ausreichten, entwickelte man in Spanien gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Galeone. Bei diesem neuen Schiffstyp handelte es sich um ein hochseetaugliches Transport- und Kriegsschiff, das schnell und wendig war. Rumpf und Aufbauten erhielten allerdings infolge der zunehmenden Warentransporte zwischen Südamerika und dem Mutterland eine Übergröße, die das Schiff schwer manövrierbar machte.
Im 17. Jahrhundert führten die Niederländer wichtige Innovationen in der Seefahrt ein. Der von ihren Schiffsbauern entwickelte neue Schiffstyp, die Fleute, war aus leichterem Holz und streng nach Zweckmäßigkeitskriterien gebaut. Sie leitete zugleich auch die Standardisierung des Schiffsbaus ein, was die Herstellungszeit von einem Jahr auf vier Monate reduzierte – kein Wunder, dass viele Handwerker aus Europa unterwegs waren, um in einer der niederländischen Werften Arbeit zu finden und die neue Technologie zu erlernen. Unter ihnen war sicherlich der russische Zar Peter I. der berühmteste, der seine Flotte ausbauen und modernisieren wollte und deshalb inkognito als Handwerker in Zaandam und Amsterdam arbeitete. Die Serienherstellung der Schiffe führte zu einer erheblichen Senkung der Produktions- und Betriebskosten, wodurch der Massentransport von Waren rentabel wurde, was zugleich auch dem Personenverkehr zugutekam. Im 18. Jahrhundert wurden die Schiffstypen durch die Engländer weiterentwickelt. Ihre Fregatten und größeren Linienschiffe machten Großbritannien zur Seemacht und zu einer der führenden Handelsmächte.
Als Passagier auf einem Schiff reiste man allerdings sehr unbequem. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnte ein Auswanderer von Rotterdam nach Philadelphia für 7½ Louisdor fahren, dafür erhielt er Verpflegung und einen Schlafplatz, der sechs Fuß lang und ebenso breit war, den er aber mit weiteren drei Personen teilen musste. Der spätere Schriftsteller Johann Gottfried Seume, der als Student zum Kriegsdienst in Amerika genötigt wurde, beschrieb diese Enge am Bord: „In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe […]. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen.“[47] Auch machte den allermeisten Europäern eine Atlantikfahrt auf diesen Schiffen Angst. Der Brandenburg-Bayreuther Gefreite Johann Konrad Döhla, der ebenfalls zum Kriegsdienst in Amerika gezwungen wurde, notierte in seinem Tagebuch:
Die Wellen steigen als wie große Berge nach einander fort auf und gegen das Schiff daher, daß man alle Augenblicke meint, sie würden es verschlingen, ja, sie schlagen oft über das ganze Schiff zusammen […]. Wir wurden, als die ersten Seefahrer, ziemlich zaghaft und wünschten uns öfters in unserem lieben Vaterlande zu sein.[48]
Versuchten Portugiesen und Spanier im 15. und 16. Jahrhundert ihre Kenntnisse über die Seewege mit den dort herrschenden Strömungs- und Windverhältnissen als Staatsgeheimnisse zu bewahren, so waren diese zur Zeit der Ausweitung der Schifffahrt nicht sehr lange zu verheimlichen, zumal die Bemannung der zahlreichen Schiffe ohne fremdes seemännisches Personal nicht möglich war. Ein Großteil der Seemänner der 1602 gegründeten Niederländischen Ostindien-Kompanie etwa kam aus ganz Europa. Es entstand ein für die gesamte Frühe Neuzeit charakteristischer internationaler Migrations- und Arbeitsmarkt für Seeleute. Handelsgesellschaften und Reedereien warben nicht nur um freiwillige Seeleute, sondern rekrutierten seemännisches Personal auch mit Gewalt.
Gewaltsam wurde auch ein Großteil der Ruderer auf den Galeeren im Mittelmeerraum rekrutiert. Alle Meeresanrainer setzten Kriegsgefangene oder eigene und von anderen Staaten gekaufte Strafgefangene als Galeerenruderer ein. So gab es unter den Ruderern der venezianischen Flotte wegen ihrer Konfession verurteilte Hugenotten aus Frankreich oder Protestanten aus den österreichischen und ungarischen Gebieten wie auch wegen Diebstahl, Raub und Mord Verurteilte aus deutschen Reichsstädten und Territorialstaaten.
Hans Staden nutzte um die Mitte des 16. Jahrhunderts die rege Küstenfahrt, die schon seit der Hansezeit den Ostseeraum, die skandinavischen und deutschen Nordseeküsten mit den englischen, französischen und iberischen Hafenstädten verband und sich in der Frühen Neuzeit weiterentwickelte. Auch die Binnenschifffahrt hatte ständig neue Wege zu beschreiten. In den Niederlanden etwa entstand ein dichtes Netz von Kanälen und Wasserwegen, aber auch in den deutschen Territorialstaaten nutzte man schon früh die Flüsse für den gleichzeitigen Waren- und Personenverkehr. Zwischen Mainz und Frankfurt am Main beispielsweise fuhren ab 1600 täglich verkehrende Marktschiffe. 1789 reiste der dänische Schriftsteller Jens Bagessen zwischen Kohl, Erbsen und Rüben auf diesem Schiff zusammen mit „etwa zweihundert Personen beiderlei Geschlechts, aus verschiedenen Völkerschaften, allen Ständen und allen Religionen. Deputierte, Kaufleute, Soldaten, Bauern, Juden, Rattenfänger, Pfarrer, Werber, Handwerker, Komödianten, Frauen, Mädchen und Krebsweiber“.[49]
Der von Bagessen beschriebene Tumult der Passagiere ist nicht nur ein Beleg für die Mobilität der Menschen und die massenhafte Zunahme des Reisens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sondern zugleich für dessen beginnende Egalisierung, da Vertreter aller Stände als gleichbehandelte Passagiere unterwegs waren. In den meisten Fällen reisten jedoch Adelige und betuchte Bürger nach wie vor mit eigenen Transportmitteln,