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Bewegung des „Jungen Deutschland“ verdankt. Vormärz: so nennt man die Jahrzehnte vor der Märzrevolution von 1848, vor den beiden Revolutionsjahren 1848 und 1849. Aus der Vormärzzeit haben sich vor allem die Namen von [<<8] Heinrich Heine (1797–1856) und Georg Büchner (1813–1837) im kulturellen Gedächtnis erhalten, und so soll ihr Werk hier denn auch mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden. Daneben sollen einige Arbeiten des Heine-Freunds Karl Leberecht Immermann (1796–1840) und des Büchner-Förderers Karl Ferdinand Gutzkow (1811–1878) mit herangezogen werden, als von Autoren, bei denen das Typische des Vormärz besonders deutlich zu greifen ist.

      Und die Jahre nach 1850 gelten als Epoche des Realismus, oder, wie vielfach auch zu lesen ist, des „bürgerlichen Realismus“ oder „poetischen Realismus“. Hier ist in erster Linie an Adalbert Stifter (1805–1868), Friedrich Hebbel (1813–1863), Theodor Storm (1817–1888), Gottfried Keller (1819–1890), Theodor Fontane (1819–1898), Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) und Wilhelm Raabe (1831–1910) zu denken, aber auch an Autoren, die heute nicht mehr ganz so bekannt sind, etwa an Otto Ludwig (1813–1865), Gustav Freytag (1816–1895) und Friedrich Spielhagen (1829–1911).

      Diese Aufteilung ist freilich nicht ohne Probleme, wie jede Einteilung in Epochen. So gehört zum Beispiel der konsequenteste und radikalste der Realisten, Büchner, bereits der Epoche des Vormärz an und nicht, wie man vermuten möchte, erst der des Realismus; Büchner ist ja schon 1837 im Alter von 23 Jahren gestorben. Mit Epochenbegriffen ist es nun einmal nicht anders: sie sind nicht zu entbehren, wo man sich ein Bild von der Literaturgeschichte machen will, aber wer zu rigide Begriffe von ihnen hat und sich zu starr an bestimmte Daten klammert, den können sie mit Blindheit schlagen.

      Für die Zeit nach 1871 gebraucht man auch gerne den Begriff der Gründerzeit oder Gründerjahre. Damit sind die Jahrzehnte nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der Wieder- oder Neugründung des Deutschen Reichs durch Otto von Bismarck mit ihren vielen großen und kleinen Gründergestalten gemeint, wobei nicht nur an politische Größen, sondern auch an solche des Wirtschaftslebens zu denken ist, an die Gründer von Industriebetrieben, Handelshäusern und Banken. Denn es handelt sich um die Zeit eines gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwungs, um die Jahre, in denen die Industrialisierung in Deutschland in ihre entscheidende Phase eingetreten und zu einem flächendeckenden Phänomen geworden ist. Die Gründerzeit wird im allgemeinen noch der Epoche des Realismus [<<9] zugeschlagen, als deren zweite Phase; das Gros der Literatur, die dem „bürgerlichen“ oder „poetischen Realismus“ zugerechnet wird, ist ja auch erst hier entstanden.

      1.2 Literaturgeschichte und Kulturgeschichte

      Prinzipien der Darstellung

      Damit ist der Zeitraum umrissen, dessen Literatur hier zum Gegenstand einer Einführung werden soll. Mit Einführung ist nun keineswegs gemeint – um noch einmal einige der Prinzipien in Erinnerung zu rufen, die im Vorwort zu Band 1 dieser Literaturgeschichte dargelegt worden sind – daß im folgenden auf eine besonders elementare Weise von der Literatur des 19. Jahrhunderts gehandelt werden soll; daß es nur um eine erste Orientierung und Basisinformationen für den Anfänger in der Wissenschaft gehen soll, etwa um einen Überblick über die wichtigsten Daten, Namen und Werke. Vielmehr soll versucht werden, möglichst viel von dem in den Blick zu bekommen, was diese Literatur „im Innersten bewegt“; was die Autoren und ihre Leser seinerzeit umgetrieben hat, was für sie die großen Themen, die entscheidenden Fragen und Probleme gewesen sind und was sie für deren Durchdringung und Bewältigung an formalen Lösungen gefunden haben. Der heutige Leser soll damit in die Lage versetzt werden, ein Verständnis, um nicht zu sagen: ein Gefühl für die Texte des 19. Jahrhunderts zu entwickeln, ein Gespür für ihre spezifischen thematischen Obsessionen und formalen Mittel; denn dessen bedarf er vor allem, wenn er mit ihnen ins Gespräch kommen will.

      Das kann aber nur gelingen, wenn auf jeden Anspruch der Vollständigkeit verzichtet und eine Auswahl, eine Entscheidung für eine überschaubare Zahl von Autoren und Werken getroffen wird; nur so wird eine Intensität der Auseinandersetzung möglich, die in der Tat ins Zentrum der Verstehensprobleme führt. Dabei kann freilich davon ausgegangen werden, daß das, was sich in solch exemplarischen Studien in Erfahrung bringen läßt, dazu verhilft, auch mit anderen Autoren und Werken besser zurechtzukommen. Denn was den einen Autor umgetrieben hat, hat im allgemeinen auch die anderen beschäftigt, wie die Zeitgenossen überhaupt. Das gilt jedenfalls für die Autoren, deren Werke ein breiteres Publikum erreicht haben und in den Kanon der [<<10] Literaturgeschichte eingegangen sind; wenn sie nicht den Nerv der Zeit getroffen hätten, hätten sie kaum einen solchen Erfolg haben können.

      Den Leser erwartet hier also kein lexikalischer Aufmarsch von literaturhistorischen Daten und Fakten, keine auf Vollständigkeit angelegte Aneinanderreihung von Stichwortartikeln zu literarischen Bewegungen, Autoren und Werken. Er wird nicht über alle literarischen Erscheinungen, Strömungen und Gruppierungen informiert werden, mit denen sich die Literaturwissenschaft beim Blick auf das 19. Jahrhundert zu befassen pflegt und die sie unter diesem oder jenem Gesichtspunkt als bedeutsam einstuft. Wer Vollständigkeit sucht, der möge zu einem der vielen Handbücher greifen, die Entsprechendes bieten, zu Autoren-, Werk- und Begriffslexika. Hier soll es vor allem darum gehen, dem Leser einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Literatur des 19. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“, ihm möglichst viel von dem mitzugeben, was es ihm erlaubt, ein Verständnis für ihre Texte zu entwickeln und auf eigene Rechnung in das Gespräch mit ihnen einzutreten.

      Literatur- und Kulturgeschichte

      Dem wird eine Einführung wie diese aber nur genügen können, wenn sie sich an etwas versucht, das man eine Kulturgeschichte der Literatur nennen könnte, oder auch eine Literaturgeschichte der Kultur, genauer: wenn sie beides in einem zu geben versucht, eine Geschichte der Kultur, wie sie sich in der Literatur bezeugt, und eine Geschichte der Literatur, wie sie sich an den kulturgeschichtlichen Gegebenheiten abarbeitet. Denn die Literatur bezieht ihre Stichworte, ihre Motive und Fragen sowie die Möglichkeiten zu deren Verhandlung weithin aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen, in die sie eingelassen ist, und aus dem Repertoire von Vorstellungen, von Diskursen, die ihr die zeitgenössische Kultur zur Verfügung stellt. Insofern läßt sich Literaturgeschichte nur als Kulturgeschichte schreiben; ohne das Eingehen auf die weiteren kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, in die die Autoren und ihre Werke eingebettet sind, würde die Auseinandersetzung mit ihnen zu einem windigen Unternehmen, bliebe sie notwendigerweise beliebig und oberflächlich.

      Die anthropologische Dimension der Literatur

      Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Literatur nicht völlig in der Kulturgeschichte und den historischen „Diskurskonstellationen“ aufgeht. Es bleibt immer ein Rest, jedenfalls bei den Werken von Bedeutung, und gerade dieser Rest ist für den Leser im allgemeinen [<<11] von besonderem Interesse. Nicht alle Fragen der Literatur sind gleichermaßen kulturgeschichtliche Fragen. Die Literaturgeschichte weiß von einer Fülle von Themen, die den geschichtlichen Wandel überdauern, von einem Grundbestand an Fragen, die mit dem Menschsein überhaupt zu tun haben, die von anthropologischer Bedeutung sind. Gerade diese hat die Literatur seit jeher mit Vorliebe aufgesucht, wie immer die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse ausgesehen haben mögen, unter denen sie ihnen Ausdruck zu verleihen suchte.

      Man denke nur an Themen wie Liebe und Tod, wie Begehren, Sehnsucht, Hoffnung, Erfüllung und Enttäuschung, wie Freundschaft und Rivalität, Macht und Ohnmacht, Glück und Unglück, Erfolg und Scheitern, Schuld und Unschuld. Was heißt es, Kind zu sein, heranzuwachsen, sich einen Platz im Leben zu suchen, sich mit anderen Menschen und mit einem gesellschaftlichen Umfeld ins Verhältnis zu setzen, Anerkennung zu gewinnen, Anerkennung zu verlieren, alt zu werden und sein Leben hinter sich zu haben? Was heißen Schicksal, Freiheit, Gerechtigkeit? Was ist der Mensch und was ist ihm die Welt? Die Reihe der Fragen, die die Literatur zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden gleichermaßen beschäftigt haben, ließe sich unschwer verlängern.

      Der literarische Text als Dokument und Monument

      Gerade um solcher und ähnlicher Fragen willen sind literarische Texte der Vergangenheit nicht nur für den Historiker interessant, zählen sie nicht

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