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didaktischer Hinsicht subjektorientiertist. Zudem verbindet sie medizinische und psychotherapeutische sowie sozialrehabilitative Erkenntnisse und Praktiken in ihren Konzeptentwicklungen miteinander. Sie schafft adäquate Lebens-, Erziehungs- und Arbeitsräume für Menschen mit geistiger Behinderung (Kap. 4) und bildet das darin tätige Fachpersonal aus. Im schulischen Bereich kooperiert die Geistigbehindertenpädagogik mit der Integrationspädagogik. Selbstbestimmung und soziale Teilhabe sind ebenso Ziele der pädagogischen und rehabilitativen Maßnahmen für Erwachsene in verschiedenen Lebensbereichen (Arbeit, Wohnen, Erwachsenenbildung, Freizeit).

      Die Geistigbehindertenpädagogik muss sich den neuen gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungen stellen, weil hierdurch nämlich das gesamte Versorgungssystem für Menschen mit Behinderung unter Druck gerät. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit gravierenden Beeinträchtigungen unter wirtschaftlichen Erwägungen schlechter versorgt oder gar ausgeschlossen werden (vgl. Dederich 2008). Zudem muss die Geistigbehindertenpädagogik die Auswirkungen der modernen Humangenetik, von Hirnforschung und Biotechnologie im Auge behalten und sich zu Wort melden, wenn Würde und Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung hierdurch verletzt werden. Da die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung dank des medizinischen Fortschritts inzwischen derer nicht behinderter Menschen entspricht, entstehen mit der Altersforschung (Gerontologie) und Behindertenpflege neue Forschungs- und Handlungsbereiche (Kap. 3.6).

      Das Aufgabenspektrum der Geistigbehindertenpädagogik ist vielfältig und geht weit über das ausschließlich Pädagogische hinaus. Als heilpädagogische Fachrichtung hat sie alle Problem- und Lebensbereiche von Menschen mit geistiger Behinderung – von der Geburt bis zum Tode – zu berücksichtigen:

      

Humangenetische Beratung / Pränatale Diagnostik

      

Berufsvorbereitung / Arbeit

      

Hilfen zur Freizeitgestaltung

      

Weiter- und Erwachsenenbildung

      

Wohnen in unterschiedlichen Institutionen

      

Behindertenpflege / Assistenz im Alter

      

Schulische Erziehung und Bildung

      

Psychologische Hilfen

      

Soziale Hilfen / Hilfen zur Eingliederung

      

Juristische Hilfen (Behindertenrecht)

      

Medizinische Therapien und Versorgung

      

Frühdiagnose und -therapie

      Und dies geschieht, weil die geistige Behinderung keine Krankheit ist, die irgendwann geheilt werden kann, sondern weil Geistigbehindert-Sein ein lebenslanger Prozess ist.

      Geistigbehindert-Sein als lebenslanger Prozess

      Die geistige Behinderung kann durch eine organische Schädigung vor, während oder nach der Geburt verursacht werden und führt in der Regel zu einer lebenslangen Beeinträchtigung. Behinderung kann aber auch durch gravierende Benachteiligung entstehen. Bei der geistigen Behinderung handelt es sich, wie später in Kapitel 3.3 noch genauer gezeigt wird, nicht um ein einheitliches Krankheitsbild. Die Schädigungen wie auch die sich hieraus ergebenden Beeinträchtigungen für das Leben des geschädigten Menschen sind vielfältig und bedürfen in jeder Lebensphase besonderer pädagogischer Zuwendung; diese ist im Säuglings- und Kleinkindalter eine andere als im Schul- und Jugendlichenalter und wiederum eine andere bei jüngeren Erwachsenen oder bei alten Menschen. Die Geistigbehindertenpädagogik thematisiert alle Lebensbereiche und hat damit in allen Lebensräumen von Menschen mit Behinderung ihre spezifischen Aufgaben.

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      Abb. 3: Institutionen der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung

      Die Lebensräume reichen von der Familie über Kliniken, Frühfördereinrichtungen (Spezielle Frühförderzentren, Kinder- und Sonderkindergärten), Sonderschulen und integrative Schulen, Werkstätten für behinderte Menschen, Freizeiteinrichtungen, Rehabilitationszentren, psychiatrische Institutionen bis zu ambulanten, gemeindeintegrierten oder stationären Wohneinrichtungen, Paarwohnen und Leben in Alten- oder Pflegeheimen.

      Trotz ihrer zwangsläufig unterschiedlichen Zielsetzung dienen die Institutionen dazu, den Menschen mit geistiger Behinderung bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Spielen, Lernen, Arbeiten, nach Freizeit, Ferien und Urlaub, nach Freunden, Liebe und Sexualität, nach Hilfe, Fürsorge und Schutz oder nach Angenommen- und Akzeptiert-Sein behilflich zu sein.

      Geistigbehindertenpädagogik als ‚Pädagogik vom Menschen aus‘ heißt also Akzeptieren des Menschen mit Behinderung als Menschen, Erkennen seiner individuellen Einschränkungen und Möglichkeiten und größtmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten durch adäquate Bildung, Erziehung und Rehabilitation (Kap. 3 und Kapitel 4). Eine zentrale Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es demzufolge, die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung im Sinne der Assistenz in der Gesellschaft zu vertreten. Dies gestaltet sich aber immer noch schwierig, weil Schädigungen und Beeinträchtigungen den behinderten Menschen als ‚anders‘ erscheinen lassen und die Gesellschaft wiederum auf Anderssein, auf Abweichungen von der Norm mit Abwertung und Diskriminierung reagiert.

      Grundgesetz

      Und sie tut dies trotz des gesetzlich verankerten Benachteiligungsverbotes. In Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es ausdrücklich: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Ein Gleichheitsgebot bzw. die Wahrung der Menschenrechte wurde international bereits 1948 durch die Vereinten Nationen in der „Universal Declaration of Human Rights“ festgelegt, die die Gleichheit aller Menschen (Artikel 1 und 2) und das Recht auf Bildung (Artikel 26/1 und 2) betont. „Seit den 50er Jahren haben sich in wirtschaftlich entwickelten Ländern, vorab auch denjenigen Europas, einige Grundauffassungen und Konzepte bezüglich Behinderung und Behindertenförderung entscheidend verändert. Dazu gehören das Recht behinderter Menschen auf Bildung und Chancengleichheit, das Verständnis von Behinderung, die Prinzipien der Kontinuität und der Flexibilität, der Normalisierung und der Integration“ (Bürli 1997, 48).

      WHO, UN

      Es waren vor allem die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) und die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO) die sich für die Belange behinderter Menschen eingesetzt haben. Auf ihren weltweiten Kongressen und Tagungen vertritt die Internationale Liga von Vereinigungen zugunsten geistig behinderter Menschen (International League of Societies for the Mentally Handicapped, ILSMH) deren Interesse und setzt sich für ihre Rechte ein. Die WHO hat 1980 auf die notwendige Differenzierung von Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap) aufmerksam gemacht, worauf ich in Kapitel 3.2 noch genauer eingehen werde. Zu den Aufgaben der UNESCO gehört neben

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