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Geschichte im politischen Raum. Hilmar Sack
Читать онлайн.Название Geschichte im politischen Raum
Год выпуска 0
isbn 9783846346198
Автор произведения Hilmar Sack
Жанр Документальная литература
Серия Public History - Geschichte in der Praxis
Издательство Bookwire
Abb. 3: Migration im Museum: Vitrine des Realschulprojekts in der Geschichtswerkstatt zur Sonderausstellung des DHMMuseenDHM „Zuwanderungsland Deutschland“
Die öffentliche Zuwanderungs-Debatte pendelte in Deutschland lange zwischen den Auswüchsen von Fremdenfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft einerseits und andererseits einem Nützlichkeitsdenken in Wirtschaft und Politik, in dem Zuwanderung angesichts des demographischen Wandels zur Sicherung des Sozialstaats ausdrücklich gefordert wird. Seit einigen Jahren gewinnt unter dem Schlagwort „Zweite deutsche Einheit“ das Bemühen um eine bessere gesellschaftliche Integration der Zugewanderten an Fahrt. Dabei geht es vorrangig um Spracherwerb, um Ausbildungs- und Beschäftigungsperspektiven, um die Überwindung der Bildungssegregation, also der ungleichen Verteilung von Bildungschancen. Integrationsbemühungen berühren aber auch ganz wesentlich Fragen von Zugehörigkeit und Identität, und dabei bündeln sich vielfältige Dimensionen von Geschichte und Politik. Wie bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt geht es auch hier um Partizipation, um emotionale Zugehörigkeit. So betonen Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer (2004, 48) die Notwendigkeit historisch-symbolischer Anerkennung als wichtigen Baustein „einer vollständigen, auch staatsbürgerlichen Akzeptanz und Voraussetzung für volle Partizipation im Gemeinwesen.“
Unter dem Begriff Integration sammeln sich ganz unterschiedliche Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens, ihre Schlagworte lauten u.a. „Kulturelle Vielfalt“, „Multikulturelle Gesellschaft“, aber auch „Leitkultur“ und „Assimilation“. Die öffentliche Debatte fokussiert – so wie während der leidenschaftlich geführten Debatte zu Beginn des Jahrtausends, als sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft in überaus kontroversen Diskussionen ihrer zentralen Werte und Normen vergewisserte (siehe Lammert 2006) – vorrangig auf die Integrationsbereitschaft der Migranten in die verfassungsrechtlichen und kulturellen Grundlagen der Mehrheitsgesellschaft. Den gesellschaftlichen Veränderungen, die Zuwanderung auch für die aufnehmende Gesellschaft brachte, und den Erfahrungen der Migranten wurden und werden hingegen nur wenig Aufmerksamkeit und Interesse entgegengebracht.
Im schier uferlosen Strom wissenschaftlicher Literatur zur ErinnerungskulturErinnerungskultur bilden die Studien, die sich dezidiert dem Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft widmen, noch immer ein Rinnsal. Vor allem die Erziehungswissenschaften leisten wichtige Pionierarbeit. Viola B. GeorgiGeorgi, Viola B. erkennt sechs „Dimensionen historischer Sinnbildung“ in der Einwanderungsgesellschaft: „1. Die Geschichte des Aufnahmelandes bzw. des Einwanderungslandes, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Mehrheit. 2. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, also die privaten Narrative der Mehrheit. 3. Die Geschichte der Herkunftsländer und Regionen der Migranten und Migrantinnen, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Minderheit. 4. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Einwanderer-Communities, also die privaten Narrative der Mehrheit. 5. Die spezifische Migrationsgeschichten der und über die Einwanderer-Communities, also die Narrative der Migration. 6. Die im doppelten Sinn geteilte – trennende und gemeinsame – Geschichte der Beziehungen von Einheimischen und Eingewanderten, also die geteilten Narrative.“ (Georgi/Ohliger 2009, 11)
Menschen mit Migrationsgeschichte stehen in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Vergangenheit einerseits und nach Zugehörigkeit zur Geschichte der Mehrheitsgesellschaft andererseits. GeorgiGeorgi, Viola B. unterscheidet bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund deshalb fünf Varianten der Aneignung von Geschichte (ebd. 12f.): 1. Orientierung an den historischen Traditionen des Herkunftslandes; 2. Übernahme kollektiver Geschichtsdeutungen aus der Mehrheitsgesellschaft; 3. Verortung ausschließlich in der ErinnerungskulturErinnerungskultur der jeweiligen Einwanderer-Community, die mit konstituiert und tradiert wird; 4. Mischen von Elementen unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse; 5. Geschichts- und Erinnerungslosigkeit, weil einerseits Verlust der historischen Traditionen aus dem Herkunftsland und gleichzeitig Ausschluss vom GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein des Einwanderungslandes.
In der multi-ethnischen Gesellschaft erfahren die an sich schon pluralen ErinnerungskulturenErinnerungskultur also weitere Diversität. „Das Vielfältige ist die Zukunft der Vergangenheit“ (Georgi/Ohliger 2009, 20) – dieser programmatische Satz zeigt: Das Kaleidoskop der historischen Betrachtung wird in der modernen EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft mit seiner ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt bunter. Historische Erzählungen und Geschichtsbilder können neue, bislang nicht vorhandene Formen annehmen. Migrationsgeschichte, Herkunftsgeschichte, Familiengeschichte und die Geschichte der Aufnahmegesellschaft müssten, so die Forderung der Wissenschaftler, zukünftig weit stärker auf ihre Gemeinsamkeiten, Zusammenhängen und Wechselwirkungen hin betrachtet werden.
Für die ErinnerungskulturErinnerungskultur im Einwanderungsland Deutschland stellen sich vor diesem Hintergrund und unter dem Gesichtspunkt nationaler Identität, also der Bindekraft miteinander geteilter Erinnerungen, gravierende Herausforderungen. Es wird verstärkt auszuhandeln sein, welchen Stellenwert die verschiedenen Erinnerungskulturen innerhalb der Gesellschaft haben sollen. Hier sind besondere Vermittlungsanstrengungen nötig, denn mit einer dauerhaften ‚Segregation der Erinnerung‘ gehen Ausgrenzungsprozesse einher, fehlen zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Alltags in der Erinnerungskultur.
Konfliktpotential steckt insbesondere in der Frage, wie sich Eingewanderte zu den kollektiv erinnerten Geschichten der Mehrheitsgesellschaft positionieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht alle historischen Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft für Zuwanderer anschlussfähig sind, gerade bei schuldbeladenen Narrativen, die zum identitätsstiftenden Grundbestand der deutschen ErinnerungskulturErinnerungskultur gehören, ist das schwierig. Gefragt wird etwa, wie historisch unbelastete Migranten die Gewaltgeschichte des NationalsozialismusNationalsozialismus als „negatives Eigentum“ (Jean Améry) annehmen sollen (siehe Gryglewski 2013; Messerschmidt 2016). BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Verantwortungsgemeinschaft“, zu der sich die „Erfahrungsgemeinschaft“ wandeln müsse, damit in diese auch die Zuwanderer eintreten könnten. Die Größe dieser Aufgabe wird deutlich angesichts von Konflikt-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in den Zuwanderer-Communities, die mit historisch gewachsenen Normen in der Mehrheitsgesellschaft kollidieren. Beispielhaft veranschaulicht das der Israel-Palästina-Konflikt oder der Völkermord an den Armeniern. Um solche widersprüchlichen Interpretationen aufzufangen, braucht es verstärkte Anstrengungen bei der Vermittlung historischen Wissens und der darauf gewachsenen Werte. Es wird dazu neuer Kontextualisierungen der deutschen Geschichte bedürfen. MuseenMuseen und Gedenkstätten werden in ihren pädagogischen Angeboten stärker die jeweiligen kulturellen Vorkenntnisse und Erfahrungen berücksichtigen und auf Interessen der Migranten eingehen müssen, sie werden die Menschen mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen häufiger als bisher bei ihren eigenen biographischen Erinnerungen ‚abholen‘ und neue Vermittlungs- und Aneignungswege ausprobieren müssen.
Wie reagiert die Politik? Sie hat die Herausforderung zwischenzeitlich erkannt (siehe Wagner 2009, 227–279). „Integration bedeutet die Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität“, heißt es im Nationalem Integrationsplan (→ Glossar), der den „angemessene[n] Umgang mit kultureller Vielfalt [als] eine notwendige Kompetenz für alle Teile der Gesellschaft“ beschreibt (BundesregierungBundesregierung 2007, 127). Auch die Enquete-Kommission des Deutschen BundestagesBundestag „Kultur in Deutschland“ widmete sich in ihrem Abschlussbericht dem neuen Leitgedanken „Interkultur“ (Bundestag 2008, 308ff.). Explizit angesprochen wird die historische Dimension der Zuwanderung indes nicht. Immerhin verband 2011 die damalige Integrationsbeauftragte Maria BöhmerBöhmer, Maria (CDU) die Einsetzung eines neuen