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Einführung Ernährungspsychologie. Johann Christoph Klotter
Читать онлайн.Название Einführung Ernährungspsychologie
Год выпуска 0
isbn 9783846355282
Автор произведения Johann Christoph Klotter
Жанр Документальная литература
Серия PsychoMed compact
Издательство Bookwire
Die beiden Ernährungstraditionen spiegeln sich auch in unterschiedlichen Arten von Restaurants wider. Je nobler ein Restaurant ist, umso kleiner sind die Portionen, je ländlicher ein Gasthaus ist, umso stärker müssen die Teller beladen sein.
Kirche contra „Barbaren“
Eigentlich hätte die mediterrane Kost an Bedeutung verlieren müssen, da die „Barbaren“ Rom besiegten und bekanntlich der Sieger sich auch kulturell durchsetzt. Wenn da nicht die römischkatholische Kirche die antike Tradition fortgeführt hätte und auf ihrem Siegeszug durch Europa Brot, Wein und Öl zu den Symbolen des neuen Glaubens gemacht hätten.
1.3 Kulturelle und soziale Lebensmittelpräferenzen
In seinem Klassiker „Wohlgeschmack und Widerwillen – Die Rätsel der Nahrungstabus“ (1988) ist Harris der Frage nachgegangen, warum in einigen Kulturen Kühe nicht gegessen werden dürfen, in anderen keine Schweine. In unserer Kultur neigen wir dazu, weder die Hauskatze noch den Haushund zu verspeisen. Auch Insekten haben es uns nicht angetan. Harris sieht die jeweiligen Nahrungstabus nicht als willkürliche und irrationale Setzungen einer Kultur an, sondern begreift sie als höchst rational, auch wenn diese Rationalität nicht bewusst ist. Sein Resümee lautet: Eine Kultur verbietet das, was das Überleben dieser Kultur erschwert, was ihre Ernährungssituation beeinträchtigen würde (alternative Theorien zu der von Harris werden weiter unten aufgezeigt).
Wenn jemand in unserer Kultur einer westlichen Industrienation den kleinen Pudel am Sonntagmittag als Festbraten nicht verzehren will, so handelt es sich hierbei nicht um einen individuellen Tick, sondern um das Einhalten einer kulturellen Norm. Harris führt das europäische Tabu des Verbots, Haustiere zu verspeisen, u. a. darauf zurück, dass Haustiere in unserer Kultur wichtige andere Funktionen erfüllen und als Proteinlieferanten weniger Bedeutung haben.
identitätsstiftende Zivilisation
Von Montanari (1993) stammt das eben skizzierte Beispiel zweier Ernährungstraditionen und damit verbundener Lebensmittelpräferenzen (mediterran vs. „barbarisch“), die sich ungemein beharrlich über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende, aufrechterhalten. Von der Mentalitätsgeschichtsschreibung wird diese „Schwerfälligkeit“ einer Kultur als spezifisches Charakeristikum einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Zivilisation begriffen. Eine Zivilisation zeichnet sich gerade dadurch aus, dass bestimmte Werte und Strukturen die Jahrhunderte überdauern. Ernährung ist insofern auch zivilisationsstiftend, und diejenigen Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise ernähren, fühlen sich so einer bestimmten Kultur zugehörig. In dieser Perspektive könnte man den geschichtlichen Prozess als sehr langsam begreifen, wenn man diesbezüglich dann überhaupt noch von Prozess sprechen kann.
Von dieser Langsamkeit zeugt auch die Einführung neuer Lebensmittel, die z. B. aus der Neuen Welt nach Europa gebracht wurden. Kartoffel und Mais wurden, obwohl sie bereits sehr viel früher als genügsame und ertragreiche Pflanzen den Hunger erheblich hätten lindern können, von der Bevölkerung nur sehr zögerlich angenommen (Prahl/Setzwein 1999). Es dauerte Jahrhunderte, bis sie akzeptiert waren. Und der Mais hat sich, weil er den Geruch, die Nahrung der armen Leute zu sein, nie ablegen konnte, bei uns nicht richtig durchgesetzt (Montanari 1993).
Was soll uns das Beispiel der Einführung von Kartoffel und Mais sagen? Vor den individuellen Lebensmittelpräferenzen liegen die kulturellen, die kollektiven. Vor den individuellen Präferenzen liegen aber auch die sozialen. Diejenigen Lebensmittel sind attraktiv, die die oberen sozialen Schichten konsumieren. Die unteren Schichten imitieren häufig das, was „oben“ geschieht (Elias 1978). Also auch hier ist die individuelle Präferenz sekundär.
kollektives Trinken – einsamer Zecher
Beim Drogenkonsum lassen sich ebenfalls kulturelle Präferenzen erkennen. Darauf macht Spode (1999) aufmerksam. So sei es eine Besonderheit des neuzeitlichen europäischen Alkoholkonsums, dass der exzessive Rausch als kollektives Erleben als unstatthaft gilt. Dieser sei früher legitim gewesen: „Ein Beispiel hierfür ist die Selbstverständlichkeit des Erbrechens beim archaischen Trinkgelage.“ (29) Bis zur Neuzeit habe man dagegen den „einsamen Zecher“ nicht gekannt. Auch die Mengen des Konsums scheinen kulturell-historischen Prozessen zu unterliegen. So wurden im frühen Mittelalter Mönchen in St. Gallen täglich fünf Maß Bier automatisch zugeteilt. Auch wenn das Bier damals vielleicht nicht den gleich hohen Alkoholanteil wie heute hatte, würden wir heutzutage eine tägliche Ration von fünf Maß Bier zumindest als sehr bedenklich einstufen. Aber auch zu Beginn der Neuzeit wurden Mengen an Bier getrunken, die heute in unserer Kultur nicht mehr denkbar wären: „Im 15./16. Jh. galt bei Adel und wohlhabenden Bürgern ein Jahreskonsum um 1000 Liter, teils auch das Doppelte, als gesund und standesgemäß.“ (39) Auch dass Kaffee- und Teegenuss in den letzten beiden Jahrhunderten den Konsum von Alkohol zurückgedrängt haben (Teuteberg 1999; Rothermund 1999), ist zunächst ein kultureller Prozess und erst dann ein individueller.
Zwang zur Individualität
Bisher konnte mit Hilfe einiger Beispiele gezeigt werden, dass unsere Ernährungsgewohnheiten weit weniger individuell ausgeprägt sind, als wir vermutlich erwartet haben. In den Zeiten der Individualisierung, in denen jeder Mensch seinen unverwechselbaren und eigenen Weg gehen muss (Beck-Gernsheim 1993), fühlen wir uns verpflichtet, in allem besonders individuell und einzigartig zu sein – auch bei der Nahrungsaufnahme. Deshalb favorisieren wir die Ausblendung kultureller und geschichtlicher Faktoren, die uns leider klar machen, dass die Kultur sehr viel darüber bestimmt, was und wie wir essen und was wir nicht essen (Ventura/Worobey 2013; Anderson 2014).
1.4 Arm und reich: Essen als Mittel der sozialen Distinktion
Fleisch und Macht
Die Kluft zwischen der mediterranen Kost und der „barbarischen“ ist bis heute nicht geschlossen, aber es steht außer Zweifel, dass sich beide Kostformen vermischt haben. Zwar hat die römisch-katholische Kirche einen teilweise erbitterten Krieg gegen die Maßlosigkeit geführt, auch wenn sie selbst oft der Völlerei verfallen ist, aber sie konnte nicht verhindern, dass Fleischkonsum zum Statussymbol der oberen Schichten der europäischen Gesellschaften wurde. Die antike Forderung an die Elite der griechischen Stadtstaaten, sich zu mäßigen, blieb im Mittelalter ungehört. Auch christliche Mäßigungsregeln wie das Fasten wurden in dieser Epoche nicht durchgehend umgesetzt. Fleisch und der Konsum hiervon in großen Mengen galten hingegen als untrügerische Indizien für Macht und für eine hohe gesellschaftliche Position. Die Mitglieder der oberen Stände waren sozusagen gezwungen, viel Fleisch zu konsumieren, um sich nach unten abzugrenzen.
Erst seit ca. 50 Jahren können sich die oberen Schichten unserer Gesellschaft nicht mehr durch Fleischkonsum von den unteren Schichten abgrenzen – weil fast alle Schichten die Möglichkeit haben, viel Fleisch zu essen. Die oberen Schichten mussten sich demnach neue Nahrungsgewohnheiten einfallen lassen, um ihren Status angemessen auszuweisen: z. B. durch Vegetarismus oder durch Schlankheit, also einer neuen Form der Mäßigung. Es ist auch gut möglich, sich mit exotischen Kostformen abzugrenzen, z. B. mit der asiatischen Küche in Europa.
Menell (1988) und Montanari (1993) geben eine Fülle von Beispielen, wie Nahrungsmittel genutzt worden sind, um eine soziale Schicht von der anderen sichtbar zu differenzieren. Elias hat in seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ (1978), und im Anschluss daran auch Menell (1988), herausgearbeitet, dass nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch die Zubereitungsformen oder die Tischsitten ausgezeichnete Mittel der sozialen Distinktion gewesen