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Der lange Weg nach Alt-Reddewitz. Ulfried Schramm
Читать онлайн.Название Der lange Weg nach Alt-Reddewitz
Год выпуска 0
isbn 9783969405475
Автор произведения Ulfried Schramm
Жанр Публицистика: прочее
Издательство Автор
Na, geht doch, flüsterte es in ihm, willst doch ein freier Künstler werden, gell!
Nach der Ausstellung war bekanntlich vor der Ausstellung, und so ging es für Kahlisch in eine neue künstlerische Herausforderung.
Er versuchte sich als Bildhauer bei seinem Freund, dem Steinmetz.
In Sandstein formte er seine erste Figur. Beim Schlagen in den Stein nahm er die
Körperformen eines Eisbären wahr. Der Rücken und der vorgestreckte Kopf des Tieres waren gut zu erkennen. Der Eisbär stand auf einem Eisblock, den Kahlisch gleich als Sockel für die Skulptur nutzte.
Der lange Weg nach Alt-Reddewitz setzte sich fort und Kahlisch bekam neue künstlerische Eindrücke für seinen Werdegang im letzten Abschnitt seines Lebens.
Künstler sind Menschen, die etwas in sich tragen, für das sie noch kein sichtbares, hörbares, greifbares Gegenüber gefunden haben. Bildet sich der Drang, diesem Erleben eine Form, einen sinnlichen Ausdruck zu geben, dann entsteht Kunst, las Kahlisch in der Monatszeitschrift einer Kunstschule.1 Mit diesen Gedanken ging er dort an die neue Arbeit.
Es entstanden unter seinen Händen kleine Skulpturen, fest montiert auf Kirschholzblöcken. Kahlisch erkannte das zündende Kunsterlebnis aus Alt-Reddewitz wieder, wenn er auf seine gesägten, geschliffenen, polierten Arbeiten schaute.
Kunst kommt aus der Finsternis ans Licht, das hatte er bereits beim Malprozess in Alt-Reddewitz erkannt. Im Artikel der Zeitschrift las er weiter: …es geht im künstlerischen Prozess nicht, wie so oft angenommen, um ein Reproduzieren einer gelernten, erübten Fähigkeit, sondern um das Ringen im Ausdruck eines Geheimnisvollen, eines Unaussprechlichen, von dem auch der Künstler zunächst nichts weiß. Erst der künstlerische Akt bringt es hervor, macht sichtbar, hörbar, greifbar, auch für den Künstler selbst …2
Kahlisch hatte in letzter Zeit genügend künstlerische Anregungen bekommen, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Das Machen sollte nun sein Lebensinhalt werden. Er wollte sehen, was in ihm steckte, wollte sichtbar machen, was er noch nicht von sich kannte, wollte andere Menschen teilhaben lassen an seinen kreativen Kunstschöpfungen.
War das Leben schön.
Schweb nicht gleich weg, bleib auf dem Teppich, hol dir den Most da, wo Bartel ihn holt, erklang es etwas frostig aus seinem Inneren. Übrigens ist der lange Weg nur so lang, wie du ihn dir machst.
Im Sommer fand er, wonach er suchte. Es gab ein Kloster an einer einsamen Flussbiegung, mit weitläufigen Gartenanlagen, alten Klostermauern, kleinen Kräutergärtchen, vielen Blumen und Gehölzen. Die Ruhe in der Klosteranlage und der ehrwürdige Ort zogen Kahlisch magisch an. Er erhielt die Unterstützung, um hier zu arbeiten. Mit einer eigenen Ausstellung und einer Kunstwerkstatt für interessierte Menschen erfüllte sich für Kahlisch der lange künstlerische Weg nach Alt-Reddewitz. Später bekam er die Referenz, diese Kunstwerkstatt im nächsten Jahr zu wiederholen.
Das Gehöft von Alt-Reddewitz mit der großen Esche wurde zu Kahlischs Piktogramm für seine Kunst.
Seine innere Stimme kicherte ein wenig dazu, und sagte verschmitzt: Na, ich hab dich doch gut beraten, oder?
1 Quelle: Zeitschrift info 3, Sonderheft April 2005, Suche nach Authentizität, Bildhauerei an der Edith Maryon Künstlerschule Freiburg/Munzingen, Geleitwort
2 Quelle: Zeitschrift info 3, Sonderheft April 2005, Suche nach Authentizität, Bildhauerei an der Edith Maryon Künstlerschule Freiburg/Munzingen, Geleitwort
ZUM TEE BEI ONKEL BÉLA
Bèla Bàcsi ist Ungarisch und heißt auf Deutsch Onkel Bèla. Bèla wiederum ist ein ungarischer Vorname und gehört in die deutsche Namensgruppe Adalbert.
Bèla Bàcsi ist in Debrecen zu finden, einer Stadt in der ungarischen Puszta. Diese liegt im Osten der ungarischen Tiefebene. Kahlisch war weder in der Tiefebene noch in Debrecen noch im Osten von Ungarn.
Er kannte aber Onkel Bèla von seinem Aufenthalt in Budapest her. Dort war Kahlisch für mehrere Wochen zum Sommerurlaub. Eingeladen hatte ihn seine ungarische Brieffreundin Erzsi. Onkel Bèla kam eines Tages zu Besuch und brachte gleich seinen Sohn Laci mit, der baldigst Verlobung feiern sollte. Für Kahlisch stellte sich erst viel, viel später heraus, dass Laci es auf die stattliche, hübsche, redegewandte Gymnasiastin Erzsi abgesehen hatte.
Kahlisch war in seiner Naivität völlig überfordert, diese Begegnung zu durchschauen. Er hielt sich an die während des Frühstücks ausgesprochene Aufforderung von Erzsi: Gä-hen wir in Mu-säum!
Kahlisch folgte ihr in sommerlicher Hitze, erst in die einzige Metro-Linie der Hauptstadt, dann über den Heldenplatz und in die Kühle des Kunstmuseums. Hier erfuhr Kahlisch die kuriose Geschichte um den Pferdezüchter Bèla aus Debrecen und seinen Sohn Laci, genannt Ladislaus, der schon lange durch Erzsis Mutter vorbereitet wurde, eine gute Partie für Erzsi abzugeben. Aber für Erzsi war dieser Ladislaus viel zu ungebildet, viel zu unerfahren, viel zu pferdeversessen und viel zu weit weg vom eigentlichen Leben.
Kahlisch fühlte sich in diesem Moment schwebend gehoben. Er war ein gut gewachsener, sportlicher junger Mann aus der DDR, mit ungeahnten Liebesanwartschaften für eine sichere Zukunft. Ein einfacher Student in den Semesterferien, der die abenteuerlichste Reise seines bisherigen Lebens machte, mit dem Nachtzug bis nach Budapest fuhr und in einer völlig unbekannten Stadt auf seine Brieffreundin traf, die ihn für diesen Sommer erwartete.
Beide hatten sich schon in den Briefen sympathisch gefunden, weil sich bei Kahlisch ein Mädchen auf ungewöhnliche Weise brieflich, fotografisch und gedanklich interessant machte. Er hatte darauf mit angemessenen Worten reagiert und Sympathie von Erzsi und auch von ihrer ihm unbekannten Mutter geerntet.
Nun saßen Kahlisch und Erzsi im Museum der bildenden Künste, am kühlen Ort, und überlegten eine Fernhaltetaktik auf Ladislaus und Onkel Bèla.
Die hohen, weiten Räumlichkeiten der Kunsthallen mit ihren dunklen Gemälden und dem hohen Anspruch an die Betrachter waren einfach nicht der geeignete Ort, um bei Kahlisch und Erzsi eine Vertrautheit in ihren Wünschen aufkommen zu lassen.
Sie rannten aus dem Gebäude auf die freie Fläche des Heldenplatzes, versteckten sich abwechselnd hinter den Säulen und wurden immer freier in ihren Sinnesausdrücken.
Kahlisch blickte auf die bronzenen Helden über ihn und Erzsi übersetzte den Text zum Helden. Dabei sprachen sie in zwei Sprachen, Erzsi sagte igen und Kahlisch sagte nein, dann sagte Kahlisch igen und Erzsi antwortete nem. Kahlisch kannte nur das russische Wort für nein, nämlich njet, aber Russisch ist doch nicht Ungarisch, sagte Erzsi zu Kahlisch, und beide lachten im hellen Sonnenschein.
Bei der Rückfahrt in der klapprigen Uralt-Metro standen sie an einer der Haltestangen und setzten ihre Wortspiele fort. Die Gegensätzlichkeiten und Doppelbedeutungen waren eine belebende, lustige Angelegenheit. Erzsi übersetzte alles ins Deutsche. Kahlisch verstand sie nicht so gut, und so kam Erzsi beim Sprechen immer dichter an sein Ohr, sodass sie sich bei der ruckligen Fahrt der Metro ständig berührten. Kahlisch konnte nicht genug davon bekommen. Er nahm die Wörter auf, als wäre Ungarisch seine neue Muttersprache.
Béla Bacsi und Laci machten in der Zwischenzeit Konversation mit Erzsis Mamika in der Küche. Die Mutter kochte, schabte, zerkleinerte, rührte, backte und beide Männer saßen bei einem schwarzen Tee dabei und erzählten von Debrecen, der Pferdezucht und den Aussichten auf gute Geschäfte, auch im Ausland.
Ob Kahlisch in diesen Gesprächen vorkam, wusste er nicht, es war für ihn auch nicht wichtig, weil er an diesem Sonntagvormittag das interessanteste Mädchen von ganz Ungarn besser kennenlernte, das Mädchen, das er schon immer haben