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damals 26, hatte gerade sein Architekturstudium an der Akademie der Bildenden Künste am Wiener Schillerplatz abgeschlossen und auch bei seinem im wahrsten Sinne des Wortes hervorragendsten Gesichtsmerkmal gestalterisch eingreifen wollen.

      Jetzt zeigte mir Aurelie Fotos von der operierten Nase ihres Bruders, mit dem sie nicht nur das Studium, sondern auch die Form der angeborenen Nase teilte. Sie wollte klarstellen, wie sie sich die Sache vorstellte.

      »Ich möchte so eine Nase wie er«, sagte sie. »Nur weiblich.« Damit legte sie ein Foto auf den Tisch, das sie offenbar als Vorlage für mich aus dem Internet ausgedruckt hatte.

      In solchen Momenten wird mir immer etwas mulmig. Exakte Vorstellungen von etwas zu haben, kann im Leben nützlich sein. Auf meinem Gebiet aber, in dem es um einen lebenden Körper und um organische Materie geht, ist es eine Katastrophe. Noch mehr fürchte ich mich nur vor Sätzen wie: Machen Sie es, wie Sie meinen. Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Herr Doktor.

      Ich schob Aurelie die Fotos wieder zurück und erklärte ihr, dass weder ich noch irgendein anderer Schönheitschirurg der Welt das Ergebnis einer Operation mit letzter Genauigkeit vorhersehen könne.

      »Der Mensch«, sagte ich, »ist ein lebendiges Wesen, ein komplexes Kunstwerk der Natur, und er lässt sich nicht mit der gleichen Präzision gestalten wie eine Schule, ein Bürogebäude oder ein Wohnhaus.«

      Aurelie sah mich mit einem Anflug von Enttäuschung an. Womit für mich gleich auch ein anderer Punkt geklärt war. Die Operation würde stattfinden, mit mir oder ohne mich. Die Fragen, die wir hier zu erörtern hatten, waren wohl bloß organisatorischer Natur.

      Dies, obwohl Nasenoperationen zu den eher seltenen Eingriffen in der Schönheitschirurgie gehören. Laut Umfrageergebnissen, die jährlich die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie vorstellt, machen sie gerade einmal 4,4 Prozent aller Eingriffe aus. Hier das gesamte Ergebnis, publiziert im Februar 2018.

      Ich sah mir Aurelie genauer an, was gar nicht nötig gewesen wäre. Ich hatte schon erkannt, wie sich die Nasen der Geschwister ähnelten. Schon bei Raphaël hatte ich arabische Gene in der Familie vermutet, nun war ich mir fast sicher. Die natürliche Nase der beiden war prägnant. Sie war leicht gebogen und hatte etwas breite Flügel.

      Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit war Aurelie das Gegenteil ihres Bruders. Sie war zierlich, während Raphaël groß und kräftig war. Außerdem wirkte sie umgänglich und weich, fast ein wenig passiv. Vielleicht hoffte sie ja, mit der gleichen Nase auch ein paar der energischeren Wesenszüge ihres Bruders abzubekommen.

      Die angeborene Nase der beiden war keine Einheitsnase. Sie konnte Blicke auf sich ziehen und damit in gewisser Weise herausfordernd sein, das schon. Als klassisch schön empfindet eine Mehrheit der Betrachter ja nicht das Besondere, sondern das Durchschnittliche.

      Die Nase als Spitze eines Eisbergs

      Nasen sind immer schwierig. Dieser Körperteil ist einer der heikelsten. Nasen sind oft die Spitze eines Eisbergs aus psychischen Problemen. Nasenpatienten gelten deshalb als die schwierigsten, was Studien regelmäßig belegen. Im ungünstigsten Fall leiden sie an einer Dysmorphophobie. Das ist eine Störung, auf die ich später noch näher eingehe, bei der Menschen einen pathologischen Konflikt mit ihrem gesamten Äußeren auszutragen haben.

      Speziell junge Männer, deren Nase keine Fehler hat, leiden häufig unter deren vermeintlicher Unzumutbarkeit. Das kann richtig krass werden. Die häufigsten Morde an Schönheitschirurgen verüben unzufriedene junge männliche Nasenpatienten. Sagt zumindest die Statistik.

      Abgesehen von solchen Auswüchsen ist die Verzweiflung von Nasenpatienten verständlich. Denn sie tragen ihr Problem meist schon lange vor sich her, oft seit ihrer Kindheit. Sie neigen zu Kommunikationsproblemen, weil sie sich schon ebenso lange für ihre Nase schämen.

      Viele entwickeln Vermeidungsstrategien und wenden viel Energie dafür auf, sich nur von vorne und nur im Notfall im Profil zu zeigen. Dabei fühlen sie sich ständig beobachtet. Ein unangenehmer Zustand, der sich tatsächlich in vielen Fällen nach einer Operation bessert.

      Ich ließ mir Zeit und betrachtete Aurelies Nase. Sie war auffällig, aber bestimmt keine, die bei Selfies im Internet gleich Shitstorms hervorrufen.

      Es gibt sie, diese Nasen, die den restlichen Auftritt eines Menschen dominieren. Doch genau wie schon bei Raphaëls angeborener Nase hätte ich jetzt auch die von Aurelie eher als interessant angesehen, als Charakternase, als eine besondere Nase, die für Persönlichkeit steht.

      »Gefällt Ihnen die neue Nase Ihres Bruders so gut oder Ihre eigene so wenig?«

      Sie lächelte »Eigentlich wollte ich meine Nase damals gleichzeitig mit ihm machen lassen«, sagte sie. »Dann dachte ich, ich warte erst mal ab und sehe, wie das ist.«

      Das passte zu meiner ersten Einschätzung von Aurelie. Sie war keine, die voranstürmte, auch nicht zu zweit. Sie war eher eine Windschattenfahrerin, klug und, wie viele kluge Menschen, eher vorsichtig.

      »Wie ist das genau mit Ihrer Nase?«, fragte ich. »Haben in Ihrer Familie auch andere so eine?«

      »Väterlicherseits.« Sie nickte. »Da gibt es einige.«

      »Und Ihr Vater selbst?«

      »Der hat auch so eine.«

      Hadern mit dem Familienerbe

      Ich erzählte ihr, dass ich häufig mit dem Phänomen der Familiennase konfrontiert bin, und dass ich zwei Arten des Umgangs damit festgestellt habe. Die einen tragen ihre Charakternasen mit Stolz, als etwas, das sie verbindet, quasi wie ein Familienwappen. Die anderen kämpfen mit ihren Charakternasen und würden viel dafür geben, unauffällig auszusehen.

      Da Aurelie, ganz anders als ihr Bruder, für dieses Thema nun doch einigermaßen offen zu sein schien, machte ich weiter. »Wissen Sie, was der Unterschied zwischen diesen beiden Familientypen ist?«, fragte ich.

      Aurelie dachte nach. Sie schüttelte den Kopf, obwohl ich vermutete, dass sie schon einen Verdacht hatte.

      »In den Familien, die stolz auf ihre besondere Nase sind, verstehen sich alle eher gut miteinander. Es gibt einen Zusammenhalt und so etwas wie eine gemeinsame Identität, für die die Nase dann auch stehen kann. In den Familien, die unter ihrer gemeinsamen Nase leiden, sind die Beziehungen eher durcheinander.”

      Ich hatte den Eindruck, dass Aurelie nicht nur verstand, was ich sagte, es interessierte sie offenbar tatsächlich. Jedenfalls fühlte ich mich zum Fortfahren ermutigt und stellte die meiner Meinung nach entscheidende Frage.

      »Verstehen Sie sich mit Ihrem Vater?«

      »Ja«, sagte sie mit ernster Miene. »Wir können ganz gut miteinander.«

      Das hatte ich nicht erwartet.

      Schon von Raphaël wusste ich, dass der Vater der beiden ein harter Mann war. Er hatte eine gehobene Position bei den Vereinten Nationen inne, weshalb seine Kinder eine internationale Schule in Wien besucht hatten und mit einem breiten Horizont aufgewachsen waren. Geboren war er in einer französischen Industriestadt, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen. Mit viel Fleiß hatte er sich nach oben gekämpft, was ihm allerdings nicht automatisch die Achtung und Liebe seiner Kinder gesichert hatte. Zumindest Raphaël hatte das wenig beeindruckt. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war so schwierig, dass er selbst in unseren nicht eben sehr persönlichen Gesprächen immer wieder giftige Seitenhiebe gegen ihn platziert hatte.

      Aurelie schien meine Gedanken zu erraten.

      »Mich hat er immer gut behandelt«, sagte sie. »Raphaël und meine Mutter können das nicht behaupten.«

      »Ein Mann, der die eigene Mutter und den eigenen Bruder schlecht behandelt, ist keiner, dessen Wappen man gerne vor sich herträgt«, wandte ich ein.

      Ich

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