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das Problem, vor dem sie stand, war das gleiche.

      Wenn es dunkel wurde, kam die Angst.

      Heute, am Tag ihrer Entführung, heftiger denn je zuvor.

      Fast schien es, als sei sie wieder klein, ein Mädchen von sieben Jahren, das den Umzug nach Berlin nicht verkraftet hatte. Jeden Abend war es dasselbe Theater gewesen, insofern hatten ihre Eltern recht. Kaum hatte ihre Mutter das Licht ausgeknipst, verschwand sie auch schon unter der Decke. Fest zusammengekauert, um sich die Ausgeburten der Fantasie vom Leib zu halten.

      Vergeblich.

      Die Finsterlinge, die in ihrem Kinderzimmer auf der Lauer lagen, in Elsas Augen waren sie aus Fleisch und Blut, wie frisch aus den Dreigroschenheften, die ihr Bruder Alfred heimlich las. Die Schritte ihrer Mutter waren noch nicht verhallt, da standen sie auch schon neben ihrem Bett, an der Spitze Graf Dracula und der Golem, gefolgt von Nosferatu, der danach lechzte, ihr das Blut aus dem schweißgebadeten Körper zu saugen. Doktor Mabuse, Gestaltwandler und Finsterling in einer Person, durfte im Reigen der Schreckensgestalten nicht fehlen, mit Doktor Frankenstein, dessen Blick sie vollends in Panik versetzte, als schaudererregendem Finale.

      Doch dann, vor etwa drei, vier Jahren, war der Spuk auf einmal vorbei gewesen, zur Erleichterung ihrer Eltern, die geglaubt hatten, sie sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Im Rückblick hatte sich die Sorge als unbegründet erwiesen, und wie um sie Lügen zu strafen, wurde eine intelligente und ansehnliche junge Frau aus ihr. Keck, adrett und mit auffallend dunklem Teint. Ein echter Hingucker, da waren sich die Nachbarsjungen einig. Doch waren es nicht nur sie, die ihr schmachtende Blicke hinterherwarfen, sondern auch Männer im fortgeschrittenen Alter, weit jenseits der 20 und absolut nicht nach ihrem Geschmack. Letztendlich war sie ja erst 17, und was ihre Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht betraf, da war außer Händchenhalten nicht viel gewesen.

      Bis gestern, als Elsa in die Fänge eines Monstrums geriet.

      Eines Verbrechers, wie ihn Berlin bis dato nicht gekannt hatte.

      Frauenschänder, Phantom, Frankenstein von Friedrichshain, Unhold, S-Bahn-Mörder, Werwolf: Die Prädikate, mit denen man ihren Peiniger bedachte, sie waren so zahlreich wie die Verbrechen, deren man ihn bezichtigte. Offiziell wurde nicht viel darüber verlautbart, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Je länger die Polizei im Dunkeln tappte, desto zahlreicher und fantasievoller die Berichte, die hinter vorgehaltener Hand kursierten.

      Fünf Morde, und das innerhalb weniger Monate, einer widerwärtiger als der andere. Genug, um die Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Genug auch, um ihre Eltern in Wachhunde zu verwandeln und sie mit Ermahnungen zu traktieren, bis sie Kopfweh davon bekam. Hätten Vater und Mutter gewusst, dass sie mit dem Bruder ihrer besten Freundin durch den Lunapark gebummelt und zuvor sogar schon mehrfach Eis essen gegangen war, zwei Wochen Hausarrest wären das mindeste gewesen, das ihr blühte.

      In Ermangelung von Fakten waren die Gerüchte über den Werwolf nur so ins Kraut geschossen, und wie nicht anders zu erwarten, liefen die Märchenerzähler zur absoluten Höchstform auf. Das Wenige indes, was an harten Fakten durchsickerte, war so schrecklich, das sich einem auf Anhieb die Nackenhaare sträubten.

      Fünf Bluttaten, mit Betonung auf der ersten Silbe, die Opfer zumeist Frauen aus einfachen Verhältnissen, begangen an der Strecke zwischen Erkner und dem Ostkreuz, just die Gegend, wo sie mit Vorliebe unterwegs gewesen war. Sei es bei Freundinnen, sei es bei ihrer Tante, die, wie der Zufall es wollte, eine Datsche in der Kolonie Gutland II besaß. Nach Bekanntwerden der Tatorte, die allesamt in der näheren Umgebung lagen, hatte sie sich jedoch rargemacht, insbesondere bei Nacht, wenn Verdunkelung angeordnet wurde. Spätestens um sechs, so lautete das eherne Gesetz, musste sie wieder zu Hause sein, auf Anordnung ihres gestrengen Vaters, für den Pünktlichkeit an oberster Stelle stand.

      Wehe, sie kam auch nur eine Minute zu spät, dann konnte sie was erleben. Der Herr des Hauses, Ortsgruppenleiter der NSDAP in Karlshorst, verstand in puncto Amüsement keinen Spaß, anders als ihre Mutter, die bereit war, hin und wieder mal ein Auge zuzudrücken. Für eine 17-Jährige nicht unbedingt das, was sie sich vom Leben erhoffte, aber eine Situation, mit der sie wohl oder übel leben musste. Und die sie in Kauf zu nehmen hatte, allen Bitten ihres Freundes zum Trotz, doch ein paar Minuten länger mit ihm durch den Tiergarten zu spazieren.

      Es geschah am gestrigen Donnerstag, als sich ihr Weg mit demjenigen des Serienmörders kreuzte.

      Mit desaströsen, um nicht zu sagen alptraumhaften Folgen.

      Von da an, seit gestern Abend Schlag sieben Uhr, als er in der S3 nach Erkner über sie herfiel, war nichts mehr so gewesen, wie es war. Das einzig Gute daran, sie war dem Werwolf um Haaresbreite entkommen. Schwer verletzt zwar und mit Blessuren am ganzen Körper, aber immerhin noch am Leben, wenngleich gegenüber früher nicht wiederzuerkennen. Das Schlimmste war nicht etwa der gebrochene Unterarm gewesen, so höllisch er auch jetzt, da sie in der Dunkelheit ihres unterirdischen Verlieses vor sich hindämmerte, noch schmerzte. Nein, das mit Abstand Widerwärtigste während der vergangenen 19 Stunden stellte für sie die Tatsache dar, dass sie ihrem Peiniger nichts entgegenzusetzen hatte, nur mehr ein hilfloses Opfer, das man nach Belieben schikanieren und erniedrigen konnte.

      Und was die Polizei betraf, die Herren Beamten waren bei ihr unten durch. Da lag sie nun im Krankenhaus, schwer verletzt zwar, aber überglücklich, dem Monstrum in Menschengestalt entkommen zu sein. Im Gespräch mit einem netten Kommissar, der ihr versprach, kein Mensch werde ihr je wieder etwas tun. Der zwei Kollegen herbeibeorderte, die er anwies, ihr unter keinen Umständen von der Seite zu weichen. Der sie tröstete und ihr Mut zusprach, allen Ängsten, mit denen sie rang, zum Trotz.

      Denkste.

      Außer Versprechungen nichts gewesen.

      Entgegen den Beteuerungen, ihr werde nicht das Geringste zustoßen, hatte der Werwolf längst ihre Witterung aufgenommen. Und hatte die Kaltblütigkeit besessen, die Polizei nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumzuführen. Auf welche Weise, war ihr immer noch ein Rätsel.

      Gerade eben noch auf der Intensivstation, um sich von der Attacke in der S-Bahn zu erholen, befand sie sich nun an einem Ort, an den sie keinerlei Erinnerung besaß. Ein Ort, an dem sie nie zuvor gewesen war, so sehr sie ihr Gedächtnis nach Erinnerungslücken durchforstete.

      Ein Ort, der wie ein unterirdisches Verlies anmutete. Wären die Turbinen, deren Surren ihr wie von fern in den Ohren klang, nicht gewesen.

      Und wären da nicht die Fahrgeräusche der S-Bahn, so laut, dass sie dachte, die Decke stürze ein.

      Denk nach, Elsa, raunte ihr eine imaginäre Stimme zu, bald näher, bald weiter von der Stelle entfernt, wo sie in Kreuzform an die feuchte Wand gekettet worden war.

      Denk nach, irgendeine Lösung muss es geben.

      Fragte sich nur, welche.

      Kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, schrie sie ihre Angst heraus. Rüttelte an den Ketten, bis ihre Haut in Fetzen hing, wie taub gegenüber den Schmerzen, die den gebrochenen Arm durchzuckten. Und ohne Rücksicht auf die Blessuren an ihrem Körper, die sie ein Lebtag lang begleiten würden, von den Schreckensvisionen, die ihr das Leben zur Hölle machten, nicht zu reden.

      Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. Wenn ihr nicht bald jemand zu Hilfe kam, würde der Werwolf Ernst machen.

      Und würde zur Tat schreiten, um sie zu töten.

      Genau wie die anderen fünf Frauen auch.

      Auf welche Weise, darüber wollte sie jetzt, da ihre Hilferufe ungehört verhallt und in ein klägliches Wimmern übergegangen waren, lieber nicht spekulieren. Egal was im Gehirn dieses Scheusals herumspukte, sie würde es bald zu spüren bekommen. Die Drohung, der Werwolf würde demnächst Ernst machen, war unmissverständlich gewesen. So absurd es klang, der Mann wollte sich an ihr rächen. Aus welchem Grund und mit welchen Mitteln, das war und blieb ein Mysterium für sie. In ein paar Stunden, so die unverhüllte Drohung, würde es ihr an den Kragen gehen. Je eher sie bereit war, die Tatsache als gegeben hinzunehmen, desto besser für ihre Konstitution. Und umso besser für ihre geschundene Seele. Denn wenn sie schon dazu bestimmt war zu sterben, dann

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