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Preußentum und Sozialismus. Oswald Spengler
Читать онлайн.Название Preußentum und Sozialismus
Год выпуска 0
isbn 9783962818708
Автор произведения Oswald Spengler
Жанр Документальная литература
Серия Sachbücher bei Null Papier
Издательство Bookwire
6.
Und so richtete der unentwegt liberale Michel den gestürzten Thron wieder auf und setzte sich darauf. Er war der gutmütige Erbe des Narrenstreichs, von ganzem Herzen antisozialistisch und deshalb den Konservativen wie den Spartakisten gleichmäßig abgeneigt, voller Angst, dass beide eines Tages ihr Gemeinsames entdecken möchten. Karl Moor im Klubsessel, der alle Interessenjäger, auch die fragwürdigsten, freisinnig duldete, vorausgesetzt, dass das republikanisch-parlamentarisch-demokratische Prinzip gewahrt blieb, dass man reich an Worten, maßvoll im Tun war, und dass Kühnheit, Entschlossenheit, disziplinierte Unterordnung und andere Zeichen von Autoritätsbewusstsein sorgfältig aus seiner Nähe entfernt blieben. Zu seinem Schutze berief er die einzige Entdeckung der Novembertage, bezeichnenderweise einen Soldaten von echtem Holze, und hegte nun wieder tiefes Misstrauen gegen den militärischen Geist, ohne den die Farce von Weimar ein schnelles Ende erreicht haben würde.
Was aber hier geleistet wurde an Denken, Können, Haltung, Würde, genügt, um den Parlamentarismus in Deutschland für immer zu richten. Unter dem Symbol der schwarz-rot-gelben Fahne, die damit endgültig lächerlich geworden ist, wurden alle Torheiten der Paulskirche erneuert, wo die Politik ebenfalls keine Tat, sondern ein Geschwätz, ein Prinzip gewesen war. Der Mann von 1917 war auf dem Gipfel: sein Waffenstillstand, sein Völkerbund, sein Friede, seine Regierung. Michel lüftete lächelnd die Mütze in der Erwartung, dass John Bull großartig sein würde und unterschrieb, eine Träne im Augenwinkel, als er es wirklich war und das rasend gewordne Frankreich als seinen Geschäftsführer vorschickte.
Im Herzen des Volkes ist Weimar gerichtet. Man lacht nicht einmal. Der Abschluss der Verfassung stieß auf absolute Gleichgültigkeit. Sie hatten gemeint, der Parlamentarismus stehe am Anfang, während er selbst in England im raschen Niedergang begriffen ist. Da ihnen Opposition als das Zeichen parlamentarischer Hoheit erschien – obwohl allerdings das englische System starke Individualitäten voraussetzt, die sich auf zwei uralte, einander bedingende Gruppen verteilen, von starken Individualitäten bei uns aber keine Rede war –, so trieben sie unentwegt Opposition gegen eine Regierung, die gar nicht mehr vorhanden war: das Bild einer Schulklasse, wenn der Lehrer fehlt.
Diese Episode ist der tiefsten Verachtung der Zukunft gewiss. 1919 ist der Tiefpunkt deutscher Würde. In der Paulskirche saßen ehrliche Narren und Doktrinäre, weltfremd bis zum Komischen, Jean Paul-Naturen; hier aber fühlte man verschmitzte Interessen dahinter. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um Düpierte oder Einverstandene handelt. Diese Parteien verwechselten das Vaterland allzu oft mit dem Vorteil. Wir erleben eine Direktorialzeit vor dem Thermidor. Wehe, wenn wir das übersprungene Stück nachholen müssen! Dass dies verlogene Schauspiel einer nicht geglückten und nicht beendeten Revolution ein Ende nimmt, ist sicher. Draußen bereitet sich ein neuer Akt des Weltkrieges vor. Man lebt heute schnell. Während die Nationalversammlung, ein verschlechterter Reichstag, aus den Trümmern des zerstörten Staates eine Hütte zusammenflickt, in der Schiebertum und Wucher mit Löhnen, mit Waren, mit Ämtern bald die einzige Beschäftigung sein werden, beginnen andere über das letzte Jahr anders zu denken. Sie vergleichen, was da gebaut wird, mit dem, was einmal da war. Sie ahnen, dass ein Volk in Wirklichkeit niemals zwischen verschiedenen Staatsformen zu wählen hat. Wählen lässt sich nur die Verkleidung, nicht der Geist, das Wesentliche, obwohl die öffentliche Meinung beständig beide verwechselt. Was man in eine Verfassung hineinschreibt, ist immer unwesentlich. Was der Gesamtinstinkt allmählich daraus macht, darauf kommt es an. Das englische Parlament regiert nach ungeschriebenen, aus einer alten Praxis entwickelten und oft sehr wenig demokratischen Gesetzen und eben deshalb mit so großem Erfolg.
7.
Aber man täusche sich nicht: die Revolution ist nicht zu Ende. Ob sinnlos oder nicht, ob gescheitert oder verheißungsvoll begonnen, ob der Auftakt einer Weltrevolution oder eine bloße Auflehnung des Mob in einem einzelnen Lande, es ist eine Krise im Gange, die wie alles Organische, wie eine Krankheit, einen mehr oder weniger typischen Verlauf nimmt, der sinnwidrige Eingriffe nicht duldet. Ethische Worte, wie gerechte Sache oder Verrat, sind der Tatsache selbst gegenüber wertlos. Man muss, als Revolutionär wie als Gegenrevolutionär, Menschenkenner sein, eiskalt und überlegen alle Faktoren des Augenblicks berechnen, das psychologische Feingefühl der alten Diplomatie statt auf Diplomaten- und Fürstenseelen auf die viel schwerer zu durchschauende, auf einen Taktfehler viel gereizter antwortende Massenseele anwenden. Volksführer mit geringer Intelligenz pflegen darin eine unfehlbare Sicherheit zu besitzen. Unsere