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auf ihren Handrücken. Sie leckte daran. Salz.

      Ein Gefühl wie Klaustrophobie fegte über sie hinweg.

      Klaustrophobie? Mitten im Nirgendwo?

      Mitten in der größten Ausdehnung von Nirgendwo, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte?

      Sie war wie gelähmt. Wo sie auch hinsah, war nichts als Sand und Himmel und Gestrüpp und …

       »Pahana.«

      Sie wirbelte herum. Auf einer kleinen Bodenerhebung ein paar Meter entfernt saß eine alte Frau.

      Eine sehr alte Frau.

      Eine sehr alte indianische Frau, die dort vor fünfzehn Sekunden noch nicht gewesen war.

      Sie war beängstigend dünn, ihre Haut war dunkel und zerfurcht wie Zedernrinde, ihr beinah weißes Haar fiel auf ihre Schultern. Ihre Hände, knotig vom Alter, lagen ruhig in ihrem Schoß. Sie trug ein über die Jahre verschlissenes Kleid aus violettem Samt, das bis zu ausgetretenen blauen Turnschuhen hinunterreichte.

      Sie hob einen Arm und winkte Stoner zu sich heran. »Pahana«, wiederholte sie.

      »Oh, hallo«, sagte Stoner. »Ich heiße Stoner Mc Tavish, und ich habe mich verirrt.«

      Die Frau blickte sie an.

      »Ich meine, ich wohne bei Stell und Ted Perkins in der Spirit Wells-Handelsstation, und ich bin spazieren gegangen und kann den Weg zurück nicht finden …«

      Sie kam sich albern vor und verstummte.

      Die Augen der alten Frau waren schwarz und hart wie Kohle.

      Wahrscheinlich spricht sie kein Englisch. »Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Ich gehe sofort weiter, sobald ich herausgefunden habe, in welche Richtung …«

      Die Frau schwieg mit ausdrucksloser Miene.

      Stoner zögerte einen Moment, trat von einem Fuß auf den anderen. »Tut mir leid«, murmelte sie und wandte sich ab.

      »PAHANA!« Das Wort hallte wider wie ein Donnerschlag.

      Stoner drehte sich zurück. »Ich verstehe nicht …«

      »Bedeutet Weiße Person.«

      »Oh.« Sie strich nervös ihr Haar zur Seite. »Verstehe.«

      Die alte Frau winkte wieder. »Komm. Sitz.«

      Stoner kletterte den kleinen Hügel hinauf und setzte sich. Die Frau starrte sie an.

      »Mein Name ist Stoner Mc Tavish«, wiederholte sie.

      »Das ist schon okay.« Die Frau starrte weiter.

      »Wie ist … ich meine … haben Sie einen Namen?«

      »Haufenweise.«

      »Das ist nett. Haufenweise. Das ist ein netter Name …«

      Die alte Frau knurrte. »Ich habe haufenweise Namen.«

      »Oh. Nun … ähm … wie möchten Sie gerufen werden?«

      »Warum du willst mich rufen? Ich bin hier.«

      »Ich meine …«

      »Wenn du beim ersten Mal sagst, was du meinst, musst du nicht so viel erklären.«

      »Ich …«

      »Vielleicht macht erklären dir ja Spaß, eh?«

      Stoner ballte die Fäuste. »Können Sie mir einfach Ihren Namen sagen? Okay?«

      »Okay.« Die alte Frau beugte sich vor und schrieb etwas mit dem Finger in den Staub.

      »Siyamtiwa?«, las Stoner.

      »Siyamtiwa.«

      »Und das ist Ihr Name?«

      »So werde ich genannt.«

      »Er ist hübsch«, sagte Stoner und fühlte sich, als ob sie gerade eine riesige Hürde genommen hatte. »Ist das Navajo?«

      »Hopi.« Die Frau hielt ihr die Hand hin. Stoner nahm sie. Siyamtiwa hielt ihre Hand fest, ohne sie zu drücken oder zu schütteln, für einen langen Augenblick. Stoner hatte das Gefühl, durchleuchtet zu werden.

      »Was bedeutet Ihr Name auf Englisch?«, fragte sie.

      »Etwas-das-sich-über-Blumen-hinweg-entfernt. Was bedeutet dein Name?«

      »Nichts. Ich meine, ich wurde nach Lucy B. Stone benannt, aber er bedeutet nichts.«

      »Großmutter Stone war eine große Frau«, sagte Siyamtiwa missbilligend. »Wenn ihr Name dir nichts bedeutet, entehrst du ihr Andenken.«

      »Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass Sie …« Sie hielt inne. »Tut mir leid.«

      Die Falten in den Augenwinkeln der alten Frau vertieften sich. »Du sagst oft ›tut mir leid‹. Vielleicht hast du etwas ziemlich Schlimmes getan, dass dir alles so leidtut. Vielleicht sollte sich Großmutter Stone ihren Namen zurückholen.«

      »Ich habe ihn ihr nicht weggenommen«, sagte Stoner. Sie fühlte sich wie eine Idiotin. »Meine Tante Hermione hat ihn mir gegeben.« Ein Kiesel schnitt in ihren Knöchel. Sie bewegte den Fuß. »Sie liest Handlinien. In Boston. Das ist in Massachusetts.«

      »Ich kenne Boston«, sagte Siyamtiwa.

      »Klar.« Sie fragte sich, was für eine Blödsinnigkeit ihr als Nächstes entfahren würde. »Sehen Sie, ich bin ein bisschen nervös. Ich bin noch nie einer Ureinwohnerin Amerikas begegnet.«

      »Nennen sie uns jetzt so? Bisschen schwer, da noch mitzukommen.«

      »Ich werde Sie bei jedem Namen nennen, den Sie am liebsten haben«, sagte Stoner eifrig.

      »Wir nennen uns Das Volk.«

      »Okay.«

      Die alte Frau gluckste in sich hinein. »Okay. Wenn wir das Volk sind, was seid ihr dann?«

      Stoner merkte, dass sie reingefallen war. Sie seufzte. »Wissen Sie, das hier ist ein bisschen frustrierend.«

      »Also wirst du jetzt ein Gewehr hervorziehen und mich tausend Kilometer vor dir hertreiben, bis ich an einem fremden Ort sterbe.«

      »Was?«

      »Das ist es doch, was pahana mit Indianern machen, die sie verärgern.«

      »Ich weiß«, sagte Stoner, »das war schrecklich. Tut mir leid.«

      Die alte Frau bedeckte ihren Kopf mit den Armen. »Wirst du mich jetzt erschießen?«

      »Ich werde Sie nicht erschießen.«

      Siyamtiwa zuckte mit den Schultern. »Mein Großonkel wurde von einem weißen Mann erschossen, der ihm auf den Fuß getreten war. Das ist eure Art, euch zu entschuldigen.«

      Stoner schwieg.

      »Natürlich«, fuhr die alte Frau fort, »war ich nicht dabei, deshalb weiß ich nicht, ob es wahr ist. Aber mein Großvater hat es mir erzählt, also stimmt es wahrscheinlich.« Sie blickte Stoner an. »Du siehst aus wie eine Regenwolke.«

      »Sie sind nicht fair«, sagte Stoner. »Ich weiß nicht einmal, was hier gerade passiert.«

      Siyamtiwa tätschelte ihren Arm. »Ich prüfe dich. Um zu sehen, ob du Sinn für Humor hast.«

      »Nicht besonders.«

      »Na, das ist schon in Ordnung.« Die alte Frau saß eine Weile schweigend da. »Hast du irgendwas zu essen?«

      Stoner fühlte in ihren Taschen nach. »Ich fürchte nein, aber ich kann etwas holen. Falls ich mich jemals entirren kann.«

      »Schau da hinaus«, sagte die alte Frau und wies mit dem Kinn auf die endlose Wüste. »Meinst du, die kannst du durchqueren?«

      Stoner lachte. »Nein.«

      »Hmpf.«

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