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Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!

       Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf

       von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah.

       Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

       Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.

       Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.

       Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr.

       Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

       Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt!

       Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt!

       Der sich den Erdkreis baute, der lässt der Sünder nicht.

       Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.

      JOCHEN KLEPPER

      Kann man ein Lied adoptieren? Einfach so? Ich weiß nicht. Ich hab mich einfach getraut. Vor Jahren schon. Seitdem ist dieses Lied mein Lied. Ein Adventslied, das mich still und treu durch meine Adventstage begleitet. Und durch die Alltage. Und das mir dabei immer neue Facetten des Evangeliums aufschließt.

      Die Gute Nachricht von Jesus Christus in fünf Strophen. Kompakt und konzentriert. Nicht weihnachtlich sanft und süß. Eher sperrig. Wie die Zeit, in der es entstanden ist: 1938 der Text, 1939 die Melodie. Eine dunkle Zeit, eine Zeit der Verführung und der Verblendung. Führerwahn. Judenpogrome. Kriegsvorbereitungen. Mittendrin der Journalist und Schriftsteller Jochen Klepper. Verheiratet mit einer Jüdin. Zwei Töchter. Der Willkür des Naziregimes ausgeliefert. Ein berühmter und erfolgreicher Schriftsteller – sein Roman »Der Vater« hat im Jahr zuvor eine bemerkenswerte Auflagenhöhe erreicht. Aber aus der »Reichsschrifttumskammer« wird er ausgeschlossen.

      »Die Nacht ist vorgedrungen.« Ein solcher Satz hat einen besonders bedrohlichen Klang 1938. Viele ahnen das heraufziehende Unheil. Doch »der Tag ist nicht mehr fern«. Der Kontrapunkt des Glaubens und der Hoffnung. Und so geht es weiter in diesem Lied, fünf Strophen lang und wieder von vorn.

      Bis heute.

      Bis zu mir.

      Nacht gegen Tag. Verzagtheit gegen Mut. Zweifel gegen Glauben. Verzweiflung gegen Hoffnung. Gott kommt. Er kommt ins Dunkel. Nicht nur mal so kurz auf Besuch. Er kommt, um zu bleiben. Im Dunkel dieser Welt und im Dunkel meines Lebens. Nicht als Richter kommt er. Als Retter! Als »Kind und Knecht«! »Als wollte er belohnen.«

      Die nächtlichen Tränen haben ein Ende. Der Morgenstern ist aufgegangen. Der Himmel verbündet sich mit der Erde. Der Schöpfer mit der Schöpfung. Der Sündlose mit den Sündern. Das gilt für gestern. Für heute. Und es gilt für morgen. Gottes Huld war nicht eine momentane Laune. Seine Freundlichkeit nicht eine vorübergehende Gefühlsregung. Sein Freispruch nicht eine zeitlich eng begrenzte Amnestie. Gott lässt den Sünder nicht. Nie mehr. Seine Liebe wandert mit uns durch die Zeit. Scheint hell und warm auf alle unsere Wege.

      Das ist das Evangelium, die Gute Nachricht. Die beste Nachricht, die je auf unserem Globus gehört wurde!

      Dieses Evangelium aber will immer neu entdeckt und entfaltet und geglaubt werden. Denn es steht quer zu meinen Alltagserfahrungen. Quer zu den Regeln menschlichen Zusammenlebens. Quer zu den Grundsätzen der Leistungsgesellschaft. Quer zu allen religiösen Bemühungen. Quer zu meinem unfrommen Wunsch, mir die Zuwendung Gottes verdienen zu wollen. Sie lässt sich eben nicht verdienen. Sie lässt sich nur entgegennehmen. Geschenkte Liebe. Durch nichts und von niemandem verdient.

      Nein, das hat man nicht einmal und ein für alle Mal verstanden. Das muss man immer wieder verstehen. Oder anders: Das muss man stehenlassen und immer wieder neu bestaunen. Denn verstehen lässt sich’s nicht wirklich. Gottes Liebe ist ein Geheimnis. So geht man nicht mit Rechtsbrechern um! Nein, man nicht. Aber Gott.

      Ich erinnere mich an ein Stilles Wochenende in Gnadenthal. Ich saß wohl schon eine Stunde in meiner kleinen Lieblingskapelle und wurde immer verzagter. Nein, vor diesem Gott hast du als Mensch keine Chance! Dieser Gedanke, dieses Gefühl drückte mich unerbittlich zu Boden. Es gibt sie ja, diese Momente, in denen dir messerscharf bewusst wird, wie groß, wie unüberwindbar die Sünde, der Sund, zwischen Gott und dir ist. In denen du’s nicht mehr nur singst, in denen es vielmehr in allen Blutbahnen pulst: »Nichts hab ich zu bringen! Aber auch gar nichts! Ich bin ein Nichts vor dir, heiliger Gott, ein Niemand!«

      Alle lendenlahmen Versuche, meinen Versäumnissen ein paar fromme Leistungen entgegenzuhalten, waren längst fehlgeschlagen. Ich wusste doch: Hinter vielen frommen Aktivitäten und Worten hatte allzu oft nur Geltungsdrang gesteckt.

      Da saß ich nun also, buchstäblich ein Häuflein Elend. Das Kreuz an der Stirnwand der Kapelle wagte ich kaum noch anzuschauen. Les Jeux sont fait. Ich hatte verloren. Das Spiel verloren. Mich verloren. Gott verloren.

      Als plötzlich eine helle Melodie in meinen düsteren Gedanken zu singen begann. Sehr leise und sehr zaghaft zunächst. Kaum wahrnehmbar. Doch dann immer lauter. Immer forscher. Und schließlich unüberhörbar.

      »Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll gerettet werden, wenn er dem Kinde glaubt!«

      Galt das mir? Galt das wirklich mir? Gerettet wird, wer dem Kind glaubt? Dem Kind in der Krippe von Bethlehem?

      Es war eine Melodie aus dem Himmel an diesem Tag. Eine Botschaft direkt von dem Kreuz, das da vor mir an der Wand hing. »Glaub nicht deiner Schuld! Glaub nicht deinem Gewissen! Glaub dem Kind! Glaub Jesus! Der gekommen ist, um die mit dem Himmel zu belohnen, die die Hölle verdient haben! Dich!«

      Ich weiß nicht mehr, ob ich geweint habe. Aber ich weiß noch, dass mir zum Weinen zumute war. Vor Scham und Schreck und vor Staunen. Vor Freude und vor Begeisterung. Weihnachten und Ostern und Geburtstag und Jubiläum auf einmal. Mein Fest!

      Wie der verlorene Sohn bin ich in Gottes Arme gefallen. In sein Erbarmen. Hab neu Platz genommen an seinem Tisch. An seinem Herzen. Hab mich satt gestaunt und satt gegessen. Und war im Himmel. Irgendwie.

      JÜRGEN WERTH

       Ankunft in 24 Minuten

      »Ankunft in 24 Minuten.« Sagt der Navi. Eigentlich ja das Navi. Neutrum. Ein satellitengesteuertes Ortungs-Programm mit Straßenkarten-Display und erotischer Frauenstimme.

      »Wer’s glaubt, wird selig«, brummt Wolf-Rüdiger grimmig.

      Er biegt auf die Bundesstraße ein und stellt den Scheibenwischer schneller. Schneeregen. Matschwetter. Zwei Baustellen stehen ihm noch bevor, wahrscheinlich sogar Umleitungen wegen der Weihnachtsmärkte in den zwei Dörfern auf dem Weg. Außerdem ist es Freitagspätnachmittag. Eine knappe halbe Stunde nur, pah. Soll man das glauben?

      Sein Patenkind Frederike spielt um halb acht einen Engel. Im Gemeindehaus der übernächsten Stadt, abseits von Wolf-Rüdigers üblicher Heimfahrtstrecke.

      Ausgerechnet heute ist es länger geworden im Büro. Erst streikte der Drucker, dann gab es Rückfragen, was will man machen.

      »Noch 24 Tage bis Heiligabend, dann haben Sie Ihr Ziel erreicht.«

      Wolf-Rüdiger reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Hat der Navi, also das Navi, eben »Heiligabend« gesagt? Nie im Leben. Ich bin völlig überarbeitet, denkt Wolf-Rüdiger, ich bin überdreht und müde. Höre schon Stimmen, meine Güte.

      Früher, als man noch Straßenkarten benutzte, hatte seine Frau

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