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      Reihe zu Klampen Essay

       Herausgegeben von

       Anne Hamilton

      Lorenz Jäger,

       Jahrgang 1951, studierte Soziologie und Germanistik. Nach der Promotion lehrte er in Japan und den Vereinigten Staaten und lebt heute in Frankfurt am Main. Er ist Redakteur im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Zuletzt sind von ihm erschienen »Prägungen« (2013), »Unterschied. Widerspruch. Krieg. Zur politischen Theologie jüdischer Intellektueller« und bei zu Klampen »Die schöne Kunst, das Schicksal zu lesen. Kleines Brevier der Astrologie« (2009).

      LORENZ JÄGER

      Beschädigte Schönheit

      Eine Ästhetik des Handicaps

      Inhalt

       Cover

       Über den Autor

       Titel

       Widmung

       Zitate

       Fräulein Montag und ihre Schwestern

       Voraussetzungen der Antike

       Paradoxe Elogen in der Frühen Neuzeit

       Exkurs über das Schielen

       Ästhetische Theorien: Friedrich Schlegel und Victor Hugo

       Der Roman des neunzehnten Jahrhunderts

       Dekadente Übergänge: Barbey d’Aurevilly, Rollinat und Sâr Péladan

       Sex

       Obszönität

       »Ich bin es selbst!«

       Danksagung

       Impressum

       Fußnoten

       Gumbrecht dem Freund

       Tal vez los defectos hermosean.

      Lope de Vega, »A una dama tuerta«

       Elle est boiteuse; mais peste, qu’elle est jolie!

      Charles de Brosses, »Lettres familières écrites d’Italie«

       Im ganzen Gebiet der ästhetischen Wissenschaften ist die Deduktion des Interessanten vielleicht die schwerste und verwickeltste Aufgabe.

      Friedrich Schlegel, »Über das Studium der griechischen Poesie«

       Contrary to what might have been supposed, the Baroness did not »glide«; far from it, she walked as if the heel of one shoe were a trifle higher than the other; not that this was so; it was merely style.

      Ronald Firbank, »The Artificial Princess«

       Rien ne vaut le (…) d’une boiteuse.

      Guillaume Apollinaire, »L’enchanteur pourrissant«

       EINE Lehrerin des Französischen, sie war übrigens eine Deutsche und hieß Montag, ein schwaches, blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes Zimmer bewohnt hatte, übersiedelte in das Zimmer des Fräulein Bürstner.

      Ich muss mit einem Vorbehalt beginnen. Schon lange gelingt es mir nicht mehr, Kafka wirklich zu lesen, im Zusammenhang, ausführlich, so, wie er es verdiente. Nur vereinzelte Stellen beschäftigen mich dann doch immer wieder, und dazu gehören die wenigen Passagen über das hinkende Fräulein Montag im »Prozess«. Es spielen ja in dieses Gerichtsverfahren auch das Begehren und die Ehen hinein: Die Pension von Frau Grubach, in der Josef K., Fräulein Bürstner und eben auch das Fräulein Montag wohnen, ist eine Zone der Singles, während der erste Besuch bei Gericht den Beschuldigten gleich in eine dampfende Familienatmosphäre führt: Kindergeschrei, Essen kochen, Wäsche waschen. Wie gern hätte ich mehr über Fräulein Montag gewusst, aber hier lässt mich Kafka im Stich. Ich wünschte mir, er hätte an dieser Stelle wenigstens die knappe Notiz eingefügt, die man anderswo bei ihm findet:

      »Dass Leute die hinken dem Fliegen näher zu sein glauben als Leute die gehn. Und dabei spricht sogar manches für ihre Meinung. Wofür spräche nicht manches?«1 Aber auch das bleibt unbestimmt. Montaigne hat den Hinkenden einen ganzen Essay gewidmet, in dem er den Mangel zum erotischen Triumph umdeutet, eine Passage darin ist unvergesslich: »Die Italiener haben ein Sprichwort, welches ungefähr so lautet: Der kennt nicht die Süßigkeit ganz, die Venus gewähren kann, der noch keine Hinkende erkannt hat.« Man muss nur zu Kafkas Zeitgenossen Franz Werfel gehen, dann findet man auch diese Auffassung. In Werfels Roman »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig« gesteht der Protagonist verzweifelt seine Liebe zu einer märchenhaft benannten jungen Frau: »Die Schönheit Sinaidas war eine wesenlose Entzückung, die ihrem Kleid die süße Form gab, selbst aber Zephyr, Geist, Schwingung zu sein schien. Und doch – es war fast klar – sie hatte ein Gebrechen. Wenn auch von zarter, unauffälliger Natur. Es schien, dass sich ihr Schritt nach der einen Seite etwas neigte, kaum merklich, aber in manchen Augenblicken unverkennbar. Dieses Unregelmäßige in dem Rhythmus ihrer Erscheinung (Hinken es zu nennen wäre zu viel und zu profan), dieses zarte Gebrechen riss mich hin, brachte mich um Verstand und Bewusstsein.«2 Und später: »O Gott, ich war, ich bin verliebt in ihr leichtes Hinken, in diese süße Gebrechlichkeit.«3 Was Kafka an Fräulein Montag versäumt hatte zu empfinden und zu schildern, das übertreibt Werfel bis zur klebrigen Süße, zum Kitsch – fast möchte man sagen: Kitsch ist (diesmal jedenfalls) verdrängte Pornographie. Schlechthin zauberhaft aber ist in seinem Lakonismus der Satz von Elias Canetti: »Sie hinkt so schön, dass die Gehenden neben ihr wie Krüppel erscheinen.«4 Solcher Gedanken der Verherrlichung war Kafka nicht fähig, sein Porträt der blassen Hinkenden scheint mir tatsächlich blass, unerwartet konventionell. Der Lehrerin des Französischen blieb ich dennoch treu.

      Ähnlich muss es Orson Welles empfunden haben, als er Kafkas Roman 1962 verfilmte, mit Anthony Perkins als Josef K. und Romy Schneider als Leni. Denn hier ist nun aus dem »ein wenig« hinkenden Mädchen eine schwerbehinderte Frau mit einer auffälligen Beinschiene geworden, und die Szenen, in denen sie auftritt, haben sich gegenüber der literarischen Vorlage sehr erweitert. Und sie selbst ist es, die ihre Behinderung thematisiert,

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