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Sie arbeitete seit vier Jahren als Sekretärin in der Kanzlei und ist inzwischen auch die Lebensgefährtin meines Partners Carlo. Bevor wir unsere Zusammenarbeit begründeten, war er Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey gewesen.

      Beim Verlassen des alten Gehöftes, in dem ich nicht nur wohne, sondern auch unsere Kanzlei untergebracht ist, streichelte ich einem altvertrauten Ritual folgend meinen beiden Bernersennhündinnen Hanna und Kira, die mich erwartungsvoll bis zum Tor begleiteten, flüchtig über den Kopf und stieg in mein Auto.

      Alzey liegt etwa eine viertel Stunde von Bernheim, meinem Heimatort, entfernt. Die kurvenreiche, schmale Kreisstraße dorthin verlangt zwar selbst dem ortskundigen Fahrer die volle Aufmerksamkeit ab, aber sie führt auch durch einen der schönsten Teile Rheinhessens, die so genannte rheinhessische Schweiz.

      Ich weiß noch, dass ich das Autoradio anhatte. Die Nachrichten auf SWR1 wurden einmal mehr in diesen Tagen dominiert vom Irak-Krieg und den fragwürdigen Erfolgsmeldungen der so genannten Allianz der Willigen. Ich mochte von diesem ganzen Wahnsinn nichts mehr hören und schaltete mutlos ab.

      Ich erinnere mich auch, dass die Fahrt durch diese inspirierende Landschaft meine Gedanken wie so oft auf eine Reise schickte durch alle Gefilde meines Gemütes.

      Rebenbewachsene Hügel, schattige Wälder, Blumenwiesen mit sprudelnden, klaren Bächen, Äcker, je nach Jahreszeit bewachsen mit Raps, Sonnenblumen, Braugerste und Zuckerrüben, aber auch Heide-, Gewürz- und Heilkräuterbewuchs und das milde, sonnige Klima prägen den Charakter dieser Landschaft, die nicht zu Unrecht oft mit der Toskana verglichen wird.

      Romantische Ortschaften, mit liebevoll renovierten Winzerhöfen, urigen Straußwirtschaften und Gutsausschänken, kleine Schlösser, Burgruinen und idyllische Kirchen fügen sich anheimelnd in das Bild ein. Und natürlich spielen der exzellente Wein in seiner Artenvielfalt sowie die bodenständige Küche eine nicht unerhebliche Rolle bei der Prägung dieses Ambientes.

      Den entscheidenden Ausschlag gibt für mich aber der besondere Menschenschlag in meiner Wahlheimat. Ein Menschenschlag, der sich über Jahrhunderte immer wieder mit neuen Situationen, vor allem aber den unterschiedlichsten Kulturen und Glaubensrichtungen arrangieren und sie adaptieren musste. „Meine geliebten” Rheinhessen! Ihre eigene Mundart mit einer Fülle sprachlicher Feinheiten und Absonderlichkeiten, jedoch ohne Einheitsklang, ist Ausdruck ihrer Identität und ihres südländisch anmutenden Lebensgefühls. Man muss sie einfach mögen. Aber wie könnte man sie einem Fremden beschreiben?

      Carl Zuckmayer, ging es mir durch den Kopf. Der rheinhessische Literat hatte seine Landsleute nur zu gut gekannt und in seinen Romanen und Schauspielen stets treffend beschrieben. Am trefflichsten in einem engagierten Monolog des Harras in „Des Teufels General”. … Mein Gott, wie lange war das her? 40 Jahre? Länger? Bei einer Aufführung der Schauspielgruppe im Gymnasium hatte man mir die Rolle des General Harras gegeben. Natürlich konnte ich mich nicht annähernd mit Curd Jürgens messen, der eine Paraderolle daraus gemacht hatte, aber ich bekam Szenenapplaus, daran konnte ich mich noch erinnern … und ich bekam sogar den Monolog noch zusammen. Ohne zu Stocken und fehlerfrei deklamierte ich ihn laut auf der Fahrt zu Koman, wohl zur Verwunderung der Dame, die ihren Wagen vor mir steuerte und im Rückspiegel meine dramaturgischen Eskapaden mit einem Kopfschütteln quittierte.

       „Schrecklich. Diese alten verpanschten rheinischen Familien! Stell’n Se sich doch bloß mal ihre womögliche Ahnenreihe vor: da war ein römischer Feldherr, schwarzer Kerl, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Dann kam ’n jüdischer Gewürzhändler in die Familie. Das war ’n ernster Mensch. Der ’s schon vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Dann kam ’n griechischer Arzt dazu, ’n keltischer Legionär, ’n Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter … und ein französischer Schauspieler. Ein … böhmischer Musikant. Und das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen, gesungen und … Kinder jezeugt. Hm? Und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der … Matthias Grünewald. Und so weiter und so weiter. … Das war’n die besten, mein Lieber. Vom Rhein sein, das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das is Rasse. Sei’n Sie stolz drauf, Leutnant Hartmann, und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter auf den Abtritt!”

      Apropos Curd Jürgens, spielte der nicht auch den Bösewicht Schinderhannes? Und trieb der Schinderhannes, alias Johannes Bückler, nicht auch in Rheinhessen sein Unwesen? Und „Bösewicht” Simonis, war der nicht auch Rheinhesse? So wurden meine Gedanken wie von selbst wieder auf den Mann gelenkt, der der Grund für diese Fahrt war und dessen Schicksal mich während der nächsten Monate mehr beschäftigen sollte, als es mir lieb war: Kollege Peter Simonis!

      Natürlich kannte ich ihn, obwohl ich sehr gut auf seine Bekanntschaft hätte verzichten können. Es fiel mir schwer, aus meiner Missbilligung für seine Lebens- und Verhaltensweise keinen Hehl zu machen. Es war ihm aber auch trefflich gelungen, die Grenzen meiner Toleranz gnadenlos aufzudecken.

      Wann hatte ich eigentlich das erste und auch letzte Mal mit ihm persönlich zu tun? Ich glaube, es war nicht lange nach dem Umzug meiner Steuerberatungskanzlei von Wiesbaden nach Bernheim im Jahr 1989. An den genauen Zeitpunkt konnte ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber es musste an einem besonders heißen Sommertag gewesen sein. Und ich erinnerte mich natürlich vor allen Dingen daran, dass es ihm alsbald mühelos gelang, dem Ruf, der ihm dank des Kollegentratsches vorauseilte, gerecht zu werden: ein unkollegiales, hinterhältiges und arrogantes Arschloch zu sein. Dass, neben anderen absonderlichen Spezialitäten, grobe Verstöße gegen das Kollegialitätsprinzip unseres Berufsstandes zu seinen Steckenpferden gehörten, wurde mir so ziemlich als erstes von den Kollegen beim Steuerberaterstammtisch in Alzey erzählt.

      Simonis war natürlich nicht dabei. Er schien überhaupt jedem direkten Kontakt mit seinen Berufskollegen auszuweichen. Keiner, so hieß es, hatte ihn jemals bei einer Verbands- oder Kammertagung gesehen und Fortbildungsveranstaltungen besuchte er zumindest nicht im Raum Alzey, Mainz, Bingen. Dafür galt seine ganze Zuwendung der regionalen High Society aus Politik und Wirtschaft. Unbeleckt von der offenen und liebenswerten Mentalität des typischen rheinhessischen Alzeyers hatte sich – auch darüber wurde ich alsbald informiert – unter seiner Leitung eine Subkultur Gleichgesinnter entwickelt. Zwar kleinbürgerlich müffelnd, aber auch hier herrschte ein exorbitantes Standesdenken und man bezog seinen nicht unerheblichen Einfluss aus dem Auf- und Ausbau sorgsam gepflegter und geschützter Netzwerke. Die weiblichen und männlichen Kumpanen dieser Bussi-Bussi-Gesellschaft, die sich bei Winzer-, Sänger- und Straßenfesten und bei den Prunksitzungen des Alzeyer Karneval-Vereins überschwänglich begrüßten und abschleckten – was, so wurde gemunkelt, oft hinter verschlossenen Türen als „Bäumchen-wechsel-dich-Spiele” seine feizügige Fortsetzung fand – brauchten in ihrem Dünkel und ihrer Dekadenz einen Vergleich mit großstädtischen Vorbildern nicht zu scheuen. Sie hatten ihre eigene Ethik und Moral, getreu der Philosophie: Recht und rechtens ist, was uns gefällt und nützt. Der Klebstoff, der diese Mischpoche zusammenhielt, waren die Leichen, die sie gemeinsam in diversen Kellern versteckt hielten.

      Und mit dieser Clique machte Peter Simonis seine Geschäfte und Geschäftchen. Dabei wurde geklüngelt und zugeschustert, was das Zeug hielt, und vor allem konnte er sich wiederum die Kontakte seiner Kamarilla, die sich nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf das benachbarte Ausland erstreckten, zu Nutze machen.

      Das alles wusste ich wohlbemerkt nicht aus eigener Erfahrung, sondern war mir von verschiedenen Seiten zugetragen worden. Ich konnte mich anfänglich des Eindrucks nicht erwehren, Peter Simonis werde zu einem höchst willkommenen Feindbild stilisiert. Man brauchte ihn, um sich selbst wiederum pharisäerhaft im Kreise gleich gesinnter „Freunde” des eigenen Wertes und der eigenen Integrität bewusst zu sein. Er wurde zu einem Objekt negativer Identifikation. Eine besonders raffinierte Form paradoxer Psychologie: Ist schließlich nicht der ein Freund, der die gleichen Feinde hat, wie man selbst?

      Andererseits, so warnte man mich, könne Simonis, wann immer es ihm diene, einen kumpelhaften Charme entwickeln, der selbst auf hartgesottene Gemüter eine frappante Wirkung ausübe und sie augenblicklich so einnehme, dass sich das distanzierende und schützende „Sie” nur allzu bald zum verbrüdernden, jegliche Schufterei verzeihenden „Du” verselbständige.

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