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Im Vergleich dazu sahen die rasiermesserscharfen Zähne des Weißen Hais aus wie die Milchzähne eines zweijährigen Kindes. Die Gnathosoma, der Mundbereich der Bestie, war ein wirksames Instrument, um die unermessliche Blutgier der Kreatur zu stillen. Da standen, links und rechts des Kopfes, die beiden keulenartigen Pedipalpen hervor. Sie dienten dem Ungeheuer zum Ertasten ihrer bedauernswerten Opfer. Aus der Mitte ragte der gewaltige Stechrüssel, das sogenannte, zungenförmige Hypostom, welcher an seinem Ende mit einer Vielzahl grässlich spitziger Widerhaken besetzt war. Er war links und rechts von zwei Kieferklauen eingerahmt, die an ihren Enden mit rasiermesserscharfen Zähnen bestückt waren. Ihre Aufgabe war es, nachdem sich die Kreatur an ihr Opfer gekrallt hatte, die Haut der Beute zu durchdringen, um den mächtigen Stechrüssel ungehindert in die offene Wunde zu stoßen und sich an dem warmen Blut zu laben.

      Der Mann rückte von seinem Elektronen-Mikroskop ab. Ein teuflisches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Er hatte genug gesehen. Er war höchst zufrieden. Genüsslich hatte er in den letzten zehn Minuten den zerquetschten Hinterleib der Hyalomma-Zecke durch sein Mikroskop betrachtet. Doch nicht der übel zugerichtete Körper der toten Zecke war es, der seine ungeteilte Aufmerksamkeit erregte. Den winzigen, tödlichen Nairoviren, welche immer noch in dem blutigen Brei herumzuckten, galt sein Interesse. Er konnte sie eindeutig ausmachen. Sie sahen aus, wie kleine, stachelige, heranreifende Früchte des Kastanienbaumes. Selbst die Farbe passte: Winzige, verlässliche, grüne Killer, welche das häufig tödlich verlaufende Krim-Kongo-Fieber auslösen.

      Sein siebentägiger Ausflug in die Nähe von Antalya hatte sich gelohnt. Als er im Mai 2012 vom plötzlichen Tod der vier Landarbeiter und des türkischen Hirten las und die Hintergründe ihres überraschend schnellen Ablebens begriff, buchte er ad hoc eine einwöchige Pauschalreise nach Belek, an der Küste der türkischen Riviera, und wurde, wie fünfzehn andere fränkische Pauschalreisende, in dem All-Inclusive-Ferienressort Limak Arkadia einquartiert. Während die anderen Feriengäste in der darauf folgenden Woche den Strand, die Poolanlagen und die anderen Annehmlichkeiten der Ferienanlage genossen und sich in der Sonne aalten, mietete der Mann für die ganze Woche einen Wagen und unternahm Tagesausflüge in das Landesinnere. Er hatte Interessen ganz anderer Natur. Am dritten Tag besuchte er das Gebiet rund um die Stadt Elmali, in welchem sich die vier Landarbeiter und der Hirte mit den Nairoviren infiziert hatten und in Folge dessen an ihren inneren Blutungen verstorben waren. Sie waren von Hyalomma-Zecken gestochen worden, welche die tödlichen Krim-Kongo-Fieber-Viren in sich trugen. So jedenfalls berichtete im Mai die internationale Presse. Nun, am dritten Tag nach seiner Ankunft, stand er trotz der Mittagshitze mit hochgeschlossener Kleidung mitten in einem ansteigenden Olivenhain, dessen Grund und Boden mit kargen Grasbüscheln bewachsen war. Zwischen den Bäumen graste eine Herde hungriger Schafe, welche auf dem ausgetrockneten steinigen Hang auch noch das letzte Grün gierig in sich hineinfraßen. Der Mann wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Die Sonne stach mit voller Kraft. Vor ihm stieg der mächtige, 3086 Meter hohe Kizlar Sivrisi Tepesi des West-Taurus-Gebirges an. In der Ferne glitzerte das sonnenbeschiene, tiefblaue Wasser der türkischen Riviera am Horizont. Doch die Naturschönheiten interessierten den Mann nicht. Er war im Moment zu aufgeregt, um die herrliche Landschaft zu genießen. Adrenalin durchströmte seine Blutbahnen wie ein schnell dahin fließender Gebirgsbach. Vor ihm, am Ende eines langen Grashalms, saß eine Hyalomma-Zecke. Sie hatte die beiden Vorderbeine weit von sich gestreckt, um sich jederzeit an einem der vorbei kommenden Schafe festzuklammern. Der Mann griff aufgeregt in seine Umhängetasche und holte ein kleines Schraubglas hervor. Vorsichtig streifte er die Zecke in das Glas. Es sollte nicht die Einzige bleiben, welche er an diesem Tag einsammelte. Nun musste sich nur noch bestätigen, dass die winzigen Insekten auch tatsächlich die tödlichen Viren in sich trugen, welche sie von den weidenden, infizierten Huftieren aufgenommen hatten. Die anschließenden Tests, welche er mit seiner mitgebrachten Ausrüstung in den nächsten beiden Tagen auf seinem Hotelzimmer durchführte, ergaben, dass er fündig geworden war. Er hatte die Nairoviren entdeckt. Die kleinen Zecken, welche er im Schweiße seines Angesichtes eingesammelt hatte, waren voll davon. Er hatte einen Glückstreffer gelandet. Verwunderlich, dass die Hyalomma-Zecken bereits bis in das Gebiet um Antalya vorgedrungen waren. Normalerweise kamen sie in viel südlicher gelegenen Regionen vor. Aber, wie die sogenannten Experten in den Medien ausführten, der fortschreitende Klimawechsel bestätigte auch an solchen Beispielen seine Auswirkungen. Ihm war das egal. Ganz im Gegenteil, er hatte gefunden, was er suchte. Nun konnte er seinen perfiden Plan in die Tat umsetzen: mordende Zecken. Für seine Verbrechen, die er seit langem plante, musste er sich die eigenen Hände nicht mehr schmutzig machen. Er hatte vor, morden zu lassen. Wie einfach und bequem! Seine kleinen, blutgierigen Freunde würden das für ihn übernehmen. Das perfekte Verbrechen. Dennoch, alles musste noch bis ins kleinste Detail vorbereitet werden. Er hatte Zeit. Bloß nichts übers Knie brechen. Die Zeit lief ihm nicht davon. Er würde erst einen Test durchführen. Einen Probe-Mord sozusagen. Ein wichtiger Test, und ein nützlicher zugleich. Das erste Opfer hatte er längst ausgesucht. Er kicherte diabolisch vor sich hin. Alles würde klappen. Davon war er überzeugt. Er würde sich zuerst von der tödlichen Wirkung der kleinen, stacheligen, grünen Killerviren überzeugen, bevor es zur eigentlichen Sache ging. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Er war sehr zuversichtlich, dass alles so kommen würde, wie er sich das vorstellte. Das Schöne war, es gab noch kein wirksames Gegenmittel gegen die kleinen Killerviren. Die Medizin war noch nicht so weit. Herrlich!

      Gedankenvoll betrachtete er das riesige, zweckentfremdete Aquarium, welches auf einem Sideboard seines Arbeitszimmers stand. Er hatte den Boden mit Blumenerde aufgefüllt und eine Mini-Wiese angesät, welche er regelmäßig goss. Gelbe Butterblumen blühten in dem Gefäß. Selbst der Sauerampfer gedieh. Die klimatischen Verhältnisse in dem Glasgefäß sollten immer schön feucht-warm sein. Das gefiel seinen blutgierigen Lieblingen. Er konzentrierte seinen Blick auf die Grashalme. Dort saßen sie, seine infizierten kleinen Killer mit den rot-gelb geringelten Beinen, und vermehrten sich fleißig. Einige von ihnen hatten einen dicken Hinterleib, vollgesogen mit Meerschweinchenblut.

      Geistesabwesend griff er in einen Käfig, der auf dem Fensterbrett stand. Darin züchtete er die kleinen, possierlichen Nager, welche vorübergehend als Nahrungsquelle für seine blutgierigen Minimonster herhalten mussten. Er griff sich eines der Tiere. Es hatte ein wunderschönes, zotteliges braun-weißes Fell und sah ihn mit seinen dunklen Knopfaugen ängstlich an. Dann hob er den Deckel, welchen er über das Aquarium gelegt hatte, kurz an und setzte das Meerschweinchen auf der kleinen Wiese aus. Seine kleinen Zecken hatten stets einen unbändigen Blutdurst. Es sollte ihnen gut gehen. „Vermehrt euch! Ich habe noch Großes mit euch vor!“, raunte er ihnen leise zu, bevor er das Aquarium wieder abdeckte.

      Kuno Seitz saß auf einer Bank und sah den flanierenden Fußgängern nach. Mütter mit Kinderwägen, die ihren Schützlingen in der Babysprache liebevoll zuredeten. Geschäftsleute, die schnellen Schrittes über den Platz hasteten, ihre Mobiltelefone ständig am Ohr, und mit ihren Gesprächspartnern offensichtlich Wichtiges zu bereden hatten. Glaubten sie jedenfalls. Dann waren da noch die Schülergruppen, welche sich lautstark darüber unterhielten, wie hoch Deutschland Italien im EM-Fußball-Halbfinale schlagen würde, sowie die Rentner, die gemächlichen Schrittes vor seiner Bank dahin schlurften, einige einen Rollator vor sich her schiebend oder zumindest auf einen Stock gestützt.

      Es war etwas windig. Das Wetter wusste nicht so recht, was es wollte. Mal war es wolkig und bedeckt, wenige Minuten später strahlte die Sonne von einem blauen Himmel. Für die nächsten Tage waren Temperaturen um die dreißig Grad vorhergesagt.

      Kuno Seitz biss herzhaft in seinen Apfel, den er sich als Nachtisch aufgehoben hatte. Vor zwanzig Minuten war er noch in der Raumerstraße 9, ganz in der Nähe vom Bohlenplatz, angestanden. Dort, wo die Erlanger Tafel jeden Mittwoch Essen an hilfsbedürftige Menschen und an die Obdachlosen dieser Stadt ausgibt. Innerhalb weniger Jahre war er ganz, ganz tief gesunken. Alles was er heute noch besaß, passte in einen ausrangierten Einkaufswagen. Das ramponierte Gefährt stand neben ihm, seitlich an der Bank abgestellt. Niemand beachtete ihn. Gelegentliche, neugierige Blicke huschten schnell wieder weg, wenn er den Beobachtern ins Gesicht sah. Kein Wunder, bei seinem ungepflegten Erscheinungsbild. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er bereits erstaunlich

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