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Ruf nationalsozialistischer Gesinnung, erkennt zwar, dass es Splitter einer Elfenbeinplastik sind, doch damit endet das Wissen um die gerade entdeckte Figur auch schon. Die Grabungsfunde landen im Keller des Ulmer Museums.

       Der Löwenmensch vor der Restaurierung 2013

      Dort bleiben sie dreißig Jahre lang unbeachtet liegen, bis zum 8. Dezember 1969. Der Prähistoriker Joachim Hahn (1942 – 1997) arbeitet damals bereits seit Wochen im Museumsdepot. Seine Aufgabe: Sichtung und Bestimmung der Funde aus der Stadel-Höhle. Zwischen hunderten Kartons stößt er auf eine Schachtel mit der Aufschrift „HS 25. 8. 39 20.m 6.Hieb“. Als er sie öffnet, erblickt er den „Schotter“ vom letzten Grabungstag anno 1939. Mit zwei Studenten beginnt er, die Elfenbein-Puzzleteile mühsam zusammenzusetzen. Nach wenigen Tagen offenbart sich vor den staunenden Augen der Wissenschaftler eine fantastische, aufrecht stehende Skulptur, die bald in der Presse als „Ulmer Tiermensch“ bekannt wird. Hahn selbst nennt das Mischwesen scherzhaft „Mugwump“. Der Name ist eine Anlehnung an eine Romanfigur des US-Schriftstellers William S. Burroughs (1914 – 1997).

      Mitte der 1970er-Jahre gibt eine anonyme Glücksfee einen kleinen Behälter mit ein paar Fundstücken im Museum ab. Die Unbekannte erklärt, dass ihr Sohn die „Dinge“ beim unerlaubten Spielen in der Stadel-Höhle gefunden habe. Da das Datum der Übergabe und der Name der Überbringerin fehlen und außerdem der Zugang in den hinteren Raum der Stadel-Höhle mit einem Gitter versperrt ist, wird die Angelegenheit nicht weiterverfolgt. Erst in den 1980er-Jahren sieht sich die Basler Paläontologin Elisabeth Schmid (1912 – 1994) den Fund genauer an und erkennt, dass er wichtige Teile des „Ulmer Tiermenschen“ enthält. Es gelingt ihr gemeinsam mit Restauratoren, den Kopf der Figur weiter zu vervollständigen. Es wird deutlich: Das Haupt gehört einer Raubkatze. Der „Mugwump“ entpuppt sich als „Löwenmensch“. Bei dieser Bezeichnung ist es geblieben. Da trotzdem immer noch Teile des Oberkörpers fehlen und fast alle Menschendarstellungen aus dieser frühen Zeit weiblich sind, glaubt Schmid, es handle sich um eine Löwenfrau.

      Als 2008 erneut Grabungen beginnen, stößt das Team um den Archäologen Claus-Joachim Kind völlig überraschend auf etwa 300 weitere winzige Splitter der Figur. Im Rahmen eines aufwendigen Restaurierungsprojekts kommt der anmutige Löwenmensch zu seiner vorläufigen Vollendung. Dabei helfen Methoden der Röntgen-Computertomografie, mit der das Meisterwerk virtuell in alle Einzelteile zerlegt und danach wieder zusammengesetzt wird. Danach folgt die Wiederherstellung am Original. Seit 2013 glänzt der Löwenmensch frisch geliftet hinter Panzerglas im Museum Ulm.

       Das Ulmer Museum

      Lokaltermin im Museum Ulm

       Der Autor vor der Vitrine des Löwenmenschen

      Am südlichsten Rand der Schwäbischen Alb liegt die Universitätsstadt Ulm. Sie ist berühmt für ihre bezaubernde Altstadt direkt an der Donau, dem mittelalterlichen Fischer- und Gerberviertel und das Münster, das mit 161 Metern den höchsten Kirchturm der Welt besitzt. Ein bekannter Zungenbrecher lautet: „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum.“ Ich bin dem Ruf oft und gerne gefolgt. Zuletzt 2014, als der Historiker und Autor Willi Grömling (1944 – 2015) und seine Frau Ingrid für einen kleinen kunstbegeisterten Freundeskreis eine Sonderführung durchs Ulmer Museum arrangierten.

      Es war der „goldrichtige“ Zeitpunkt, um dem jüngst renovierten Wunderwesen Reverenz zu erweisen. Das Museum dokumentierte gerade die spektakuläre Schau „Die Rückkehr des Löwenmenschen“ mit den neuesten Erkenntnissen zu den Uranfängen der Kunst und ihrer genialen Schöpfer. Dazu erschien ein Begleitbuch, das die spannende Auffindungsgeschichte, das aufwendige Restaurierungsprojekt und den faszinierenden Mythos rund um das altsteinzeitliche Prachtexemplar erklärt. Kurt Wehrberger hat den packenden Archäologiekrimi gemeinsam mit Fachkollegen verfasst. Der Kurator ist einer der profundesten Kenner der Eiszeitkunst in der Schwäbischen Alb. Bei seinem liebsten Studienobjekt kommt der Urzeitforscher ins Schwärmen: „In der fantastischen Gestalt des Löwenmenschen ist uns ein einzigartiges Relikt erhalten, das in eine Sphäre geistig-religiöser Vorstellungen der Menschen der letzten Eiszeit verweist. Die Figur gibt uns einen faszinierenden Einblick in das komplexe Weltbild unserer frühesten Vorfahren, das die tägliche Auseinandersetzung mit der Natur eindrucksvoll widerspiegelt. Seit der Auffindung im Jahre 1939 bleibt seine Geschichte und die Intention seiner Herstellung spannend.“

       Hüter des Löwenmenschen: Kurt Wehrberger, stellvertretender Direktor des Ulmer Museums

      Mit dem Löwenmenschen sind noch etwa 50 weitere fantastische filigrane Kunstwerke in vier Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt worden. Die Fundorte klingen kauzig: Hohlenstein-Stadel und Vogelherd (beide im Lonetal) sowie Geißenklösterle und Hohle Fels (beide im Achtal). Die ältesten handtellergroßen Plastiken sind 40.000 Jahre alt, die jüngsten 30.000 Jahre. Gleiches gilt für acht Flöten aus Geier- und Schwanenflügelknochen sowie Mammutelfenbein. Sie haben unterschiedliche Tonlagen und gehören zu den ältesten Musikinstrumenten der Welt. Das hohe Alter der Kunstwerke bereitet manchem klassischen Prähistoriker noch Kopfzerbrechen. Doch das Fazit aus den Radiokohlenstoffdatierungen und stratigrafischen Befunden ist eindeutig: Die Wiege der Kunst lag nicht anonym im „Irgendwo“, sondern direkt vor unserer Haustüre, mitten in Süddeutschland!

       Menschlicher Körper mit Löwenkopf: Wandrelief der ägyptischen Göttin Sachmet

      Bei meinem Besuch habe ich Glück und genieße eine besondere Ehre: Kurt Wehrberger, der auch stellvertretender Museumsdirektor ist, lässt es sich nicht nehmen, persönlich durch die archäologische Sammlung mit ur- und frühgeschichtlichen Exponaten aus über 80.000 Jahren Menschheitsgeschichte zu führen. Highlight ist und bleibt der „Löwenmensch“ aus der Aurignacien-Kultur, dem das Museum im 1. Stock einen eigenen, imposant gestalteten Themenbereich gewidmet hat. Jeder Gast, der vor der Vitrine des Löwenmenschen verweilt, ist fasziniert und erstaunt über die ästhetische Ausdruckskraft des aufrecht stehenden Wesens mit leicht gespreizten Beinen und herabhängenden Armen. Es hat zweifelsfrei den Körperbau eines Menschen. Der Kopf dagegen ist der eines Löwen. Die Schnauze deutet ein Lächeln an und der Blick ist in die Ferne gerichtet. Im Angesicht dieser Tier-Mensch-Figur werde ich an die Gestalt anderer Mischwesen erinnert, die mir aus der altägyptischen Mythologie bekannt sind: die mächtige Schutzgöttin Sachmet und die sanftmütige Katzengöttin Bastet. Beide werden meist stehend in Menschengestalt mit Tierkopf dargestellt. Auch im alten Babylon und später in der griechischen und römischen Historie wird von Hybriden – halb Mensch, halb Löwe – berichtet. Der Löwenmensch aus der Stadel-Höhle entstand jedoch locker 35.000 Jahre früher. Ein gewaltiger Zeitsprung, der nur unter Zuhilfenahme einer Zeitmaschine zu überbrücken wäre, dennoch springt dem Betrachter die optische Parallele der Wunderwesen ins Auge.

      Geschlechterzwist und Mutanten

       Er glaubte an eine „Übersinnliche Welterkenntnis“ und begründetedie Anthroposophie: Rudolf Steiner

      Im Zuge der Neurenovierung und Ergänzung von Bruchstücken hat sich das Erscheinungsbild des Löwenmenschen verändert. Ging man wie erwähnt anfangs noch davon aus, dass die Statuette eine Löwenfrau verkörpert, sehen das Archäologen nunmehr anders: „Es ist ein Mann!“ Für die gelungene Umwandlung zum maskulinen Geschlecht wird ein dreieckiges Plättchen als Beweis angeführt, das im Schambereich in zugespitzter Form zum Boden weist. Es wird als „stilisiertes männliches Geschlechtsteil“

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