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über ein Kind, das bestialisch ermordet wurde.

      Dabei erfuhr ich unglaubliche Hilfe von Menschen, die ich vorher nicht kannte. Ich wurde sozusagen „weitergereicht“ an Zeitzeugen, die es nicht erwarten konnten, mir davon zu berichten, was sie aus dieser Zeit noch wissen.

      Ich stellte fest, dass über dem ganzen Fall, den einzelnen Ereignissen, den dunklen Tagen nach dem Geschehen, den Gedanken der Menschen des Dorfes so etwas wie eine dünne Schicht Staub lag. Schon ein leichtes Pusten, sogar der Windhauch eines Wortes, blies den Belag weg und die harte, grausame Wahrheit kam hervor. Und ich kratzte und wischte.

      Ich versuchte, ein Brennglas auf die Wahrheit zu richten, um das Dunkle wegzuleuchten. Niemals vorher hätte ich mir vorstellen können, dass ich mit so vielen Brandflecken fertigwerden müsste.

      Vieles war nach so langen Jahren zu Asche geworden. Schwarze und graue Asche, die von den Menschen untergegraben oder vom Wind verweht worden war. Doch ich konnte Reste finden. Die versuchte ich zusammenzulegen, um aus diesem Puzzle die Zeit der mörderischen Tat neu erstehen zu lassen.

      Ich trug Fakten um Fakten zusammen. Viele Monate. Es ging mir nicht immer gut dabei, aber irgendetwas, eine unglaubliche Kraft, half mir voran.

      Für die ermittelnden Kripobeamten hatte der mutmaßliche Täter von Anfang an festgestanden. Ich habe ihn am Ende übernommen. Gegen meine Überzeugung!

      Fragen kann ich heute keinen mehr der dringend verdächtigen Menschen. Sie sind alle tot.

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      Ich schreibe also eine Geschichte! Wie sie ausgeht, weiß ich heute noch nicht. Es wird meine Geschichte sein, in Anlehnung an die Geschehnisse im Jahre 1972.

      Gewisse Ähnlichkeiten meiner Figuren mit noch lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht gänzlich zu vermeiden, da der Auslöser für dieses Buch ein reales Verbrechen ist. Doch in weiten Teilen entspringen die Akteure der Handlung meiner schriftstellerischen Fantasie.

       Gertrud Wollschläger, 2014

       DER GEIßENSCHINDER

      Der Ostwind hatte ganz schön zu tun, bis er es schaffte, oben auf dem Plateau anzukommen. Meist brauchte er mehrere Anläufe, bis er die hohen Tannenspitzen, die den Berg mit seiner topfebenen Fläche von allen Seiten umgaben, überwinden konnte. Hatte er aber die letzte Hürde genommen, blies er an seinen besonderen Windtagen, was das Zeug hielt. Die Wipfel der Bäume tanzten dann mit ihm, brachen aber sein übermütiges Treiben meistens rechtzeitig, bevor er die Hochebene erreichen konnte. Häufig gebärdete er sich gerade in der Nachwinterzeit – Februar, März, April – nochmal wie ein Angeber-Krieger, der einen hohen Berg erstürmen will, dessen Atem dann aber doch nicht ausreicht, um kraftvoll an sein Ziel zu kommen. Genau dieses Windbrechen sorgte dafür, dass der Ostwind immer einige Grade wärmer oben ankam als anderswo. Es war die geschickte geografische Lage des Berges, die das seltene Phänomen hervorbrachte, so dass der andere, der Nordwind, wenn er sich zwischendurch auf die Hochebene traute, stets den Kürzeren zog. Dieser gemäßigte Ostwind war ein gern gesehener Gast bei den Bauern auf dem Berg. Hatten sie es doch ihm zu verdanken, dass auf ihrer Hochebene Kirschen reiften wie sonst kaum noch irgendwo im Land.

      Aber es gab auch die anderen Jahre. Dann, wenn der Wind auf seinem Weg aus dem Osten zu viel an Kälte und Frost eingesammelt und nichts davon unterwegs abgeladen hatte, wenn er sich im Frühjahr noch einmal überraschend auf den Weg machte, wenn er heimlich über Nacht den Berg hochkroch und tagelang mit dicken Backen über die Obstbäume blies, deren erstes zaghaftes Anschwellen der Knospen bereits zu sehen war. Dann zerstörte er mit seinem kalten Atem alles, was sich bereits hervorgewagt hatte. In einer einzigen Nacht schaffte es der raue Geselle, alles zu vernichten, was er ungeschützt finden konnte. Brutal versetzte er den ersten Frühlingsboten einen tödlichen Schlag. Der mitgebrachte Frost sorgte dafür, dass sie danach wie matschiges Gemüse aussahen.

      „Der Geißenschinder ist unterwegs“, sagten dann die Alten. „Holt die Geißen rein! Kümmert euch um unsere Hunde und Katzen! Lasst die Stalltüre einen Spalt offen, dass die Tierle verschlupfen können! Lauft! Holt Stroh aus der Scheune und stopft die Ritzen zwischen den Brettern im Stall zu!“ Die Hühner konnte man sich selbst überlassen. Die wühlten sich in ihre ausgekratzten Mulden, steckten die Köpfe unter die Flügel und verdösten den Tag. Wer aber seinen Ziegenstall nicht vorsorglich an die windgeschützte Seite der bestehenden Stallungen gebaut hatte und die Tiere dadurch dem berüchtigten späten Geißenschinder aussetzte, musste damit rechnen, dass sie in den folgenden Wochen mit seltsamen Krankheiten zu kämpfen hatten. Viele überlebten dann diese späte, harte Winterkälte nicht. Ein herber Verlust für die Kleinbauern! Waren die Ziegen vor Zeiten doch die Kühe vieler Familien auf den kleineren Schwarzwaldhöfen. Sie wurden gebraucht für das Überleben, die Geißen. Ihr Unterhalt kostete so gut wie nichts. Ihr karges Futter – sie fraßen tatsächlich alles – wuchs sozusagen vor der Haustür.

      Die Landschaft, wenn man sie von oben anschaut, liegt fast topfeben da. Ein vielfarbiger Teppich, der sich mit jeder neuen Jahreszeit in ständig wechselnder Kleidung präsentiert, breitet sich vor dem Betrachter aus. Es sind die bunten Farben der Erde in allen Schattierungen. Das helle Frühjahr mit seinem überwältigenden Grün. Der farbige Sommer mit seiner einmaligen Blütenpracht, der die verschiedensten Sorten von Kräutern zum Blühen bringt und sie wie Edelsteine im Gras funkeln lässt. Ein Herbst, der nicht genug zeigen kann an farbigem Laub, das die Sonne an den freiliegenden Waldrändern in Gold und Rot aufleuchten lässt. Ein fahler, langer Winter? Bestimmt nicht! Die Äcker und Wiesen holen ihre Farben ein, ziehen ihre braunen Kleider an, von hell- bis dunkelbraun. Die knorrigen Obstbäume warten auf die Winterstürme, die ihnen helfen, sich von manchem überflüssigen dürren Ast zu befreien. Von allem gibt es auf dem Berg ein bisschen mehr, mehr Farben, mehr Schnee, mehr Wind, mehr Luft zum Atmen.

      Steile Wege führen aus allen Richtungen auf den Berg. Wenn der Wanderer den Wald verlässt, breitet sich vor seinen Augen eine überraschend schöne Ebene aus. Mit dem kleinen Weiler mittendrin aus wenigen alten Bauernhöfen, die eng beisammenstehen, scheint es dem Betrachter, als sähe er Bilder aus einer anderen Welt. Man fühlt sofort: Hier kann keiner alleine. Jeder ist am Leben des anderen irgendwie beteiligt. Lattenzäune schützen die alten Hausgärten mit ihren Pflanzen, die sich ihren Lebensraum schaffen dürfen, wie es ihnen gefällt. Gemüse und Beerensträucher, die oft jahrzehntelang an immer der gleichen Stelle stehen und unermüdlich Früchte tragen, locken mit ihren reifen Früchten zur Erntezeit den Betrachter an die Zaunritzen. Wiesen wechseln sich mit Äckern ab, die großen Obstanlagen werden von Wanderwegen gesäumt. Eine Wallfahrtskapelle am Waldrand, Wegkreuze, ein Stück Jakobsweg und zwei gern besuchte Wirtshäuser runden das Bild ab. Es ist anders als anderswo. Es ist so, wie der Mensch im tiefsten Innern tickt, wie er eigentlich leben möchte, was seine Seele fordert, was seine Augen sehen wollen.

      Und die, die hier wohnen? Die Menschen kennen einander. Oft besser als nur gut. Geht man in ihren Biografien etwas weiter zurück, ist festzustellen, dass sie meist irgendwo irgendwie miteinander verwandt sind. Diese Verwandtschaftsverhältnisse sind nicht immer einfach für die Beteiligten. Da kann man nicht einfach was sagen über jemand, denn es ist doch die Base von dem dabei, über den man an der Kaffeetafel heute so gerne geschimpft hätte. Etwas über den Acker, den die eigene Enkelin so gerne geerbt hätte, der jetzt aber in den falschen Händen gelandet ist. Wegen einer Tante, die sich von irgendeiner Seite einschmeicheln konnte.

      „Jetzt gibt der doch denen den Acker. Der hat mal meinem Großvater g’hört. Den haben die dem abg’schwatzt für ein paar Kartoffelernten.“ „Von denen halt ich gar nichts mehr.“ „Komm mir bloß net mit der Sippe!“

      Oder: „Mei Schwägerin, die Klara, hat doch scho lang gwusst, dass mei Mann a Verhältnis mit der Nachbarin hat. Des Luder! Aber mir hat sie natürlich nix davon erzählt. Kein Sterbenswörtle hat sie verlauten lassa. So isch die! Sie hat mi net aufrega wolla, hat sie mir gsagt. Ha, Ha! Des kennt mr jo! Vorne

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