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zwei Tage später ließ sich Chris an ihrem Krankenbett sehen, schweigend. Er ahnte, was Klara gesehen hatte. Liebevoll, mit besorgtem Blick hielt er ihre Hände. Auch sie sagte nichts und hielt die Augen geschlossen. Er erhob sich, um das Zimmer zu verlassen. Klara wollte, dass er ihr das Geschehene erklärte. Sie rief ihn zurück. Sein Blick war schuldbewusst. Seltsamerweise wirkte das tröstend und gleichzeitig erschreckend auf sie. Zögernd setzte Chris sich wieder auf die Bettkante.

      Mit zitternder Stimme begann Klara das Gespräch: »Ich weiß alles, Chris.« Er nickte, nahm wieder ihre Hände, um sie zaghaft zu streicheln.

      Dann sprach er darüber, wie sehr er darunter litt, verbotenerweise seine Schwester zu lieben und zu begehren. Dass es nie mehr geschehen dürfe und würde.

      Er wollte ja immer für sie da sein, er würde sie immer lieben. Niemand könnte ihren Platz in seinem Herzen einnehmen. Aber berühren würde er sie nur noch, wie eben ein Bruder seine Schwester berühren darf. Ja, er liebte seit Kurzem eine junge Frau. Für diese Liebe müsse er sich nicht schämen. Sie hatte nichts Verbotenes, er bräuchte sie nicht zu verheimlichen.

      Was zwischen Klara und ihm geschehen war, sollten sie beide als großes Geheimnis bewahren, schon aus Rücksicht auf die Mutter. Es wäre gut und richtig, wenn auch Klara sich einem anderen jungen Mann zuwenden würde.

      Klara schwieg. Christopher erhob sich müde und verließ das Zimmer.

      Sie hatte ihn verstanden, aber etwas in ihr weigerte sich, die Worte zu begreifen.

      Kaum etwas behielt ihr Magen bei sich, sie verlor an Gewicht. Der Arzt war ratlos. Christopher pflegte sie aufopferungsvoll, gab ihr löffelweise zu trinken. Manchmal las er ihr vor, Kindermärchen, die sie noch immer so liebte. Manchmal trocknete er mit einem Bettzipfel behutsam ihre lautlosen Tränen. Sie aber vermisste schmerzlich diese anderen Berührungen von ihm.

      Irgendwann siegte der Überlebenswille. Sie behielt die Nahrung wieder bei sich und verließ das Bett. Christopher half ihr bei den ersten Gehversuchen. Er und Mutter waren glücklich über die Genesung.

      Doch etwas in ihr war zerbrochen.

      Christopher sprach nie mehr über seine Freundin. Er war liebevoll und aufmerksam zu Klara, vermied aber jede körperliche Berührung.

      Sie besuchte schon seit geraumer Zeit wieder die Schule, da sah sie die Fremde noch einmal. Klara musste an der geschlossenen Bahnschranke warten. Die Fremde stieg aus dem Zug, der aus Hamburg kam, dann fiel sie dem wartenden Christopher in die Arme. Sie hatte ihr Fahrrad dabei. Ein Bahnbediensteter hob es gerade aus dem Zug. Christopher wirkte glücklich.

      Er lachte und küsste sie, dann verließen sie den Bahnsteig.

      Der Anblick kam für Klara völlig überraschend und war unerträglich. Sie war zufällig in der Nähe des Bahnhofs gewesen, hatte nicht spionieren wollen.

      Trauer spürte sie, aber auch noch ein anderes Gefühl.

      Im Widerstreit zum Schmerz erfüllten sie auch Wut und Hass.

      Zorn auf diese Frau, die ihren Bruder verführt hatte. Ihren Christopher, der sich jetzt bestimmt elend und schuldig fühlte. Diese Frau hatte alles vernichtet, was gut war. Hatte Christophers und ihr Leben zerstört, ihnen die Perspektive gestohlen, alles, wofür es sich zu leben lohnte! Diese Gedanken manifestierten sich, wurden für Klara augenblicklich zur unumstößlichen Wahrheit.

      Rachegedanken folgten. Sie musste die andere loswerden. Die müsste nur aus seinem Leben verschwinden, und alles wäre wieder wie früher. Sie wollte, ja sie musste Christopher von dieser Frau befreien. Sie musste ihn retten.

      Dann würde ihm endlich klar werden, wozu Klara für ihre Liebe bereit war, und er würde zu ihr zurückkehren. Nicht einen Augenblick zweifelte sie an der Richtigkeit ihrer Gefühle und Gedanken. Sie lächelte glücklich überzeugt. Dass ihr diese einfache Lösung nicht früher eingefallen war!

      Sie hatte eine Idee. Und nichts und niemand würde sie daran hindern, diese sofort zu verwirklichen. Die Fahrräder würden nachher bestimmt wieder vor dem Primelwald stehen. Sie wollte dann hinfahren und handeln.

      So war es. Die Fahrräder standen nebeneinander, als wenn selbst sie zusammengehörten und Klara verhöhnten. Sie dachte an die Fremde, die jetzt wieder in Christophers Armen lag. Klaras Hass stieg ins Unermessliche. Diese Frau war eine Prüfung für ihre Liebe, und ohne Klaras Hilfe würde Christopher diese Prüfung nicht bestehen. Dieser Fremden würde das Lachen vergehen, sie musste bestraft werden, hatte betrogen und gestohlen.

      Klara schaute sich das Fahrrad der verhassten Fremden an. Es war ein Sportrad ohne Rücktrittsbremse. Zielgenau durchtrennte Klara die Bremsleitung. Nicht eine Sekunde kam es ihr in den Sinn, dass sich zwischen Chris und der Fremden durch einen Unfall möglicherweise gar nichts ändern würde. Sie war von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. Nach so einem Unfall würde die bestimmt nicht wieder auftauchen.

      Das Taschenmesser verstaute sie wieder in ihrer eigenen Satteltasche. Mit schwarzem Isolierband tarnte sie die Schnittstelle. Diese Manipulation würde schon das erste Bremsmanöver nicht überstehen, zumal es auf der Rückfahrt steil bergab ging.

      »Ich tue es für dich, Christopher, ich tue es für uns«, flüsterte sie, bevor sie nach Hause radelte.

      Das weitere Geschehen erlebte Klara wie einen Film im Schnelldurchlauf.

      Das Martinshorn eines Krankenwagens!

      Den Anruf!

      Später Chris, völlig verstört und verzweifelt.

      Zeitungsreporter.

      Polizei und Befragungen.

      Die Eltern des Mädchens.

      Die Beerdigung, zu der Chris nach Hamburg fuhr und von der er völlig verändert zurückkam.

      Er brach das begonnene Medizinpraktikum ab und ging zum Studium nach München.

      Klara verstummte. Ihr war klar, dass Christopher wusste, wer die Bremsleitung manipuliert hatte. Aber er sagte nichts. Aus Feigheit? Aus Angst? Oder war es sein letzter Liebesbeweis für sie? Wie gerne hätte sie ihm gesagt, dass sie das nicht gewollt hatte, dass sie sich völlig verrannt hatte in ihrem zerstörerischen Hass. Sie hatte überhaupt nicht an den unbeschrankten Bahnübergang in der Feldmark gedacht, nicht an die Möglichkeit tödlicher Verletzungen.

      Oder doch?

      Warum war in dem Moment auch gerade der Zug aus Hamburg gekommen? Ausgerechnet aus Hamburg!

      Christopher war fort. »Krümel«, hatte er nur zum Abschied gesagt, nicht mehr. Dennoch klang es für sie wie ein Verzeihen. Sein Blick war unendlich hilflos und traurig.

      Klara litt. Schuldgefühle höhlten sie aus, nagten in ihr wie gefräßige Bestien. Es war der Kummer, den sie ihrer Mutter bereitet hatte, die die Trauer des Sohnes teilte. Der Schmerz, den sie ihrem Bruder, dem Mann, den sie über alles liebte, zugefügt hatte. Der unerträgliche Verlust. Sie erstarrte. Aber sie schwieg, verschwieg auch ihre Schuld. Für ihn, für die Mutter, glaubte sie.

      Erholsamer Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Wie sollte sie leben, wenn ein Mensch durch ihren Hass gestorben war?

      Von Zeit zu Zeit kam ein Brief von Christopher, belanglose Zeilen.

      Sie hatte begriffen, dass sie ihm nicht nach München folgen durfte, dass sie ihm die Chance lassen musste, ein neues Leben zu beginnen.

      Auch später in der Klinik schwieg Klara beharrlich. Nur wusste sie jetzt, dass sie selbst den Zeitpunkt bestimmen konnte, zu dem sie die Last niederlegte. Sie hatte sich ja für das Leben entschieden.

      Jemand löschte das Licht.

      BOXERSHORTS

      Ich kann Boxershorts nicht ausstehen. Diese unförmigen, amerikanischen Unterhosen finde ich schrecklich. Sie sind Liebestöter wie die Doppelripp aus Baumwolle mit angeschnittenem Bein und Eingriff.

      Wenn Carsten morgens mit

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