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sind Sie sicher, dass sie mich hören kann?“

      „Ja, Herr Sauer. Sie ist ganz bestimmt wach.“

      „Ella, mach die Augen auf, wir haben etwas zu besprechen“, befahl er ungeduldig. „Doktor, ich brauche Sie vorerst nicht mehr.“

      Etwas musste schiefgelaufen sein. Wenn ein Arzt anwesend war, bedeutete das, dass das Flugzeug verunglückt sein musste. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Ihre Wimpern waren irgendwie verklebt, und wegen des heftigen Pochens in ihrem Kopf beschloss sie, die Augen nur einen Spaltbreit zu öffnen. Der Schmerz kam in Wellen, die sich zu einer gigantischen Woge auftürmten. Sie drehte den Kopf zur Seite und übergab sich. Der Mann neben ihr fluchte, bevor er mit einem feuchten Tuch über ihre Lippen wischte.

      „Hier, trink das.“

      Ein kleiner älterer Mann mit schütteren, stacheligen, grauen Haaren hielt ein Glas Wasser in der Hand und sein angewiderter Ausdruck ließ sie vermuten, dass er es ihr lieber ins Gesicht geschüttet hätte. Dennoch hielt er ihr den Kopf, damit sie das Wasser trinken konnte. So nahe an ihrem Gesicht war es Ella unmöglich, den muffigen Geruch, der von ihm ausging, zu ignorieren. Ein Rinnsal lief ihr am Hals hinab, als sie das Glas in einem Zug leerte. Zumindest ließ der Durst etwas nach. Er bettete ihren Kopf zurück auf das Kissen. Verstohlen sah sie sich um. Überall steriles Weiß. Wie in einem Krankenhaus. Oder einer Zelle. Es fehlten Fenster. Was sie allerdings noch mehr beunruhigte, war der Umstand, dass sie ans Bett gefesselt war. „Na also, schön dich zu sehen“, versuchte der Mann eine Art Begrüßung.

      Kalte hellblaue Augen musterten sie, als wäre sie eine seltene Spezies. Das allein bereitete ihr schon Unwohlsein. Aus seiner langen, gekrümmten Nase wuchsen borstige Haare. Der braune Pullover, den er über einer blauen Hose trug, sah aus, als hätte er ihn aus der Altkleidersammlung gezogen und machte ihn nicht sympathischer. Er war älter als ihr Vater und vermutlich einen Kopf kleiner als sie selbst. Sein aufmunterndes Lächeln wirkte aufgesetzt, und irgendwie bezweifelte sie, dass er ein Arzt war.

      „Dann stelle ich mich mal kurz vor. Ich bin Markus Sauer, der Leiter dieser Einrichtung. Wenn du willst, darfst du mich Markus nennen.“ Wie kam er darauf, dass sie das wollte?

      „Die Lage, in der du dich befindest, muss dich erschrecken!“, fuhr er unbeirrt fort. Sie glaubte, einen Hauch Mitgefühl darin mitschwingen zu hören. In ihrem Kopf hämmerte es unangenehm. Die Zusammenhänge wollten sich ihr nicht erschließen. Was war das für eine Einrichtung? Sie war nicht nur erschrocken, sondern panisch vor Angst. Wie kam sie hierher? Wer war er? Und was verdammt nochmal war passiert? Aber anstatt all diese Fragen an diesen Mann zu richten, brachte sie nur ein krächzendes „Was … passiert?“ hervor.

      „Du willst wissen, was passiert ist?“ Er grinste sie verschlagen an. „Eine gut durchdachte Entführung ist passiert“, beantwortete er die Frage, als wäre es eine logische und völlig normale Sache.

      Plötzlich war sie hellwach. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was wollte dieser kleine Widerling von ihr? Ihre Eltern waren nicht reich … er dachte doch nicht daran, sie zu vergewaltigen? Oder, wie es erst vor kurzem in der Zeitung gestanden hatte, als Sklavin halten? Eingesperrt in irgendwelchen Kellern … Menschenhandel - Organhandel, spann sie den Gedanken weiter. Sie zitterte unkontrolliert und verlor die Fassung. Plötzlich hatte sie das Gefühl zu fallen. Ein bodenloser Abgrund hatte sich vor ihr geöffnet und schien sie zu verschlucken. Sie fiel und fiel, konnte den Boden immer noch nicht unter ihren Füßen spüren. Irgendjemand schrie. Markerschütternd. Als ihr bewusst wurde, dass sie es war, holte sie Luft, saugte gierig den Sauerstoff in ihre Lungen und versuchte sich zu beruhigen. „Machen Sie mich los!“, schrie sie ihn mit unmenschlicher Stimme an. Die Fesseln wollten nicht nachgeben, egal wie stark oder fest sie daran zerrte, was sie noch mehr ihrer Beherrschung kostete. Es war diese ohnmächtige Wut, die ihr die Tränen in die Augen trieb. „Was wollen Sie von mir?“ Die Worte kamen jetzt flüssiger über ihre bebenden Lippen, denn mit voller Wucht war ihr Überlebenswille erwacht. Zu gern hätte sie ihm den Hals umgedreht.

      „Moment, eins nach dem anderen. Wenn du dich beruhigt hast, werde ich dir vielleicht die ein oder andere Frage beantworten.“ Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage. „Marie, kannst du mal jemanden vorbeischicken, um eine Sauerei vom Fußboden aufzuwischen? Der Gestank ist unerträglich.“

      „Ich bin mir sicher, dass sie mich mit jemandem verwechseln“, versuchte sie ihn zu überzeugen, nahm aber im gleichen Moment sein verneinendes Kopfschütteln wahr. Ellas Stimme brach und sie schluchzte hemmungslos. Das ist ganz sicher ein Versehen, das musste einfach eine Verwechslung sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Durch den Tränenschleier hindurch glaubte sie ein Lächeln um seine Mundwinkel ausmachen zu können. Dieser perverse Spinner amüsierte sich über ihre Verzweiflung. Erneut kämpfte sie gegen die Fesseln an. Der Typ sah sie nur mit diesem ruhigen durchdringenden Blick an und entgegnete nichts. Ihr Herz verkrampfte sich, in ihrer Magengrube bildete sich ein dicker Kloß, sodass ihr erneut übel wurde, allerdings dieses Mal von der übermächtigen Angst, die ihr die Eingeweide zusammenzog. Kalter Schweiß gefolgt von heißen Schockwellen versetzten sie in ein Wechselbad der Gefühle. Wann gab er dem Grauen ein Gesicht oder zumindest einen Namen? Er zog einen Stuhl heran, eindeutig darauf bedacht, dem Erbrochenen nicht zu nahe zu kommen und setzte sich.

      „Ella, du bist die Richtige. Alles andere sollten wir in Ruhe klären.“

      Wütend presste sie erneut die Frage hervor und hoffte, endlich eine Antwort zu erhalten, die sie als akzeptabel einstufen konnte. „Sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen.“ Ella spie das Sie aus, als wäre es etwas Ungenießbares. Die Tür wurde geöffnet und eine kleine Frau mittleren Alters machte sich daran, das Erbrochene aufzuwischen. Nach wenigen Augenblicken war sie so leise verschwunden, wie sie erschienen war, und Sauer nahm das Gespräch wieder auf.

      „Jeder Mensch hat seine Bestimmung und deine ist eine besondere. Wenn man etwas erforscht, will man irgendwann wissen, ob die Erkenntnisse, die man erlangt hat, auch in der Praxis funktionieren. Als wir mit unseren Experimenten begannen, lag unser Fokus darauf, Katalogbabys produzieren zu können.“ Er hielt kurz inne. „Dass daraus dann mehr werden würde, konnte keiner ahnen.“ Ella sah ihn abwartend an, aber offensichtlich wollte er ihr keine weiteren Details offenbaren. Er wirkte in Gedanken versunken, bis sich dieser Ausdruck urplötzlich wieder verzog und er sie durchdringend ansah. „Wir wissen von deinen Träumen und davon, dass sie Realität werden. Du wolltest das nie akzeptieren, weil sie dir von Anfang an Angst bereitet haben.“

      Wie konnte dieser Fremde davon wissen?

      „Man fürchtet sich nur vor Dingen, die man nicht versteht. Wir werden dir dabei helfen, deine Ängste zu überwinden und dann die wichtigsten Informationen aus deinen Träumen herausfiltern, damit dieses Wissen für uns wertschöpfend wird.“ Herausfiltern? Sie dachte an einen dieser Horrorfilme, oder waren es Science-Fiction-Streifen gewesen, bei dem einer Person Elektroden an den Schläfen befestigt wurden und alles, was an Gedanken gespeichert war, auf einem Bildschirm sichtbar gemacht wurde. Dieser Sauer war eindeutig verrückt, größenwahnsinnig. Am besten, sie tat zunächst so, als schenkte sie ihm Glauben, bevor sie eine Möglichkeit fand, von hier zu verschwinden. Zwar hatte sie Träume, die Realität wurden, aber das hatten andere Leute sicherlich auch. Es war vermutlich so etwas Ähnliches wie ein Déjà-vu. Eine erklärbare Sache, nichts, um das man sich übermäßig Gedanken machen müsste. So hatte sie es immer gehalten, und nun wollte dieser Typ sie vom Gegenteil überzeugen.

      Plötzlich wurde ihr kalt, seine Worte erhielten nun eine Bedeutung, die sie bis eben nicht verstanden hatte. Zögernd kam ihr die Frage über die Lippen: „Was habe ich mit diesem Experiment zu tun?“

      „Ehrlich gesagt wäre es mir auch lieber, wenn unsere Reproduktionswissenschaftler das Problem mit der hohen Sterberate der Embryonen endlich gelöst hätten. Die Gaben auf natürlichem Wege weiter zu kombinieren, ist eine weitaus vielversprechendere Variante. Wir haben sehr hohe Erwartungen und nicht unendlich viel Zeit, um noch die Anerkennung für unsere Arbeit einzuheimsen.“

      Das Blut in ihrem Kopf rauschte und Ella hoffte, sie hätte sich verhört. Sauer räusperte sich. „Nachträglich stellte sich heraus, dass einer der Laboranten

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