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hatte sich eine zunehmende Vertrautheit aufgebaut, die auch Einblicke in die Gefühlswelt erlaubte. Über das Befinden alleine zu sein und Vorstellungen und Wünsche, an diesem Zustand etwas zu ändern. Wir gestanden uns, dass uns am stärksten ein Partner an der Seite fehlte, ohne dass auch nur ansatzweise mitschwang, wir könnten vielleicht diese Person sein. Uns tat es einfach nur gut einen Menschen zu haben, mit dem wir über alles reden und ihm vieles anvertrauen konnte.

      Ich hatte Sina erzählt, dass bei meiner Frau 1989 gesundheitliche Probleme auftraten: ein Druck vor der Brust deutete auf eine Stenose hin. Tatsächlich wurde sie 1990 dilatiert – eine Gefäßerweiterung durch Ballondehnung -, das ihr fünf Jahre unbeschwertes Leben bescherte.

      Dann wurde eine By-pass-Operation erforderlich, die ihr alte Lebensqualität zurückgab. Vor jedem neuen Eingriff meldete sich das »Warnsystem« rechtzeitig; darauf war Verlass und es gab meiner Frau scheinbar eine gewisse Sicherheit und Beruhigung. So auch 2004, als ein Stunt gesetzt werden musste.

      Wie es in ihr wirklich aussah, sie sich wirklich fühlte, das gab sie nicht preis. Auf die Frage, von wem auch immer gestellt: »Jutta, wie geht es dir?«, antwortete sie stets: »Mir geht es gut.« Und niemand hatte Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage. Meine Frau war diszipliniert und stark und sie hätte uns nie beunruhigen wollen. Ich musste also vieles erahnen, war auf eigene Beobachtungen und mein Einfühlungsvermögen angewiesen.

      Jutta hatte Pläne für die Zeit im Ruhestand: Freundeskreis, Kultur, Reisen. Aber auch den äußeren Rahmen gestaltete sie noch einmal neu: 1999 Teakmöbel aus Dänemark für Wohn- und Esszimmer, dazu Lampen und Leuchten aus Heiligenstedten, eine neue Küche folgte 2004 und das Schlafzimmer bestellten wir im April 2007. Damit war der Rahmen perfekt und komplett. Doch für wen?

      Mitte Juni musste ich meine Frau ins Krankenhaus bringen. Damit sie sich ein Bild vom neuen Schlafzimmer machen konnte, hatte ich ihr eine Tapetenprobe gezeigt, den Farbton hatte sie gewählt. Am 2. August konnte ich ihr erzählen, dass die Möbel am Vormittag angeliefert und aufgestellt worden waren. Am Abend verstarb sie.

      Sina und ich erfuhren langsam immer mehr voneinander; die Mosaiksteine komplettierten das Bild zunehmend. Jeder gab so viel preis wie er für richtig hielt, neugieriges Nachfragen war uns fremd.

      Mit unseren Telefonaten lebten wir in einer anderen Welt. Ein Verstellen machte keinen Sinn, wem sollten und wollten wir etwas vormachen und weshalb? Einem Phantom? Es gab nicht den geringsten Grund.

      Es offenbarten sich grundehrliche Einstellungen, Gefühle und Wünsche. Die Gedanken konnten sich frei und ungegängelt bewegen, sie unterlagen keinen Zwängen. Es war ein Vertrauen und Anvertrauen ohne Konsequenzen. Das machte alles so einmalig, offen, ehrlich – zwei Seelen vertrauten sich an. Es war ein befreites, unbekanntes aufeinander Zugehen, das wir mit jedem Gespräch aufs Neue pflegten, genossen und vertieften. So wuchs ein unerschütterliches Vertrauen ohne Störfaktoren von außen, unglaublich erfrischend und bereichernd.

      Zunehmend bedeutsamer aber wurde für mich zu erfahren, wie Sina etwas aufnahm, erlebte und bewertete und welche Emotionen mitschwangen. Es war für mich eine vollkommen neue Erfahrung; ein Mensch erschloss sich mir auf eine noch nie erlebte Weise. Es entstand ein Bild von Sina, indem ich in sie hineinschaute; auf diese Weise wurde sie mir noch vertrauter.

      Äußerlichkeiten waren außen vor, sie konnten keinen Einfluss nehmen, nicht von dem was Sina wirklich ausmachte, ablenken. Allein die Werte, die ihr wichtig sind, ihr Leben bestimmen und prägen, erfuhren meine Aufmerksamkeit. Wir lernten den Menschen kennen, sein Äußeres spielte keine Rolle.

      So lernte ich Sina kennen und schätzen, ohne mir dieses gezielt ins Bewusstsein zu holen. Erst als unser erstes Treffen näher rückte, mussten wir uns Erkennungshilfen geben.

      Kapitel 6

       6 ′ – Rune und Sina geben sich ein Gesicht

      Früher als ich noch Fahrschüler war, war darauf Verlass: die Züge hielten den Fahrplan ein; heutzutage sind Verspätungen an der Tagesordnung. Aber gerade heute, am 12. Okt. 2010, durfte das nicht passieren. Ich war allein auf diesen einen Zug fokussiert. Ankunft 13.56 h aus Hamburg-Altona, Weiterfahrt um 14.02 h nach Westerland. Ich war angespannt und aufgeregt. Schließlich war Sina mir sehr nahe gekommen, mehr noch als die Menschen, die mir in den einsamen, trost- und freudlosen letzten drei Jahren zur Seite gestanden hatten. Sie war mir vertraut und herzlich verbunden. Ihr hatte ich meine geheimsten Gedanken, Gefühle, meine Sehnsüchte, scheinbare Ausweglosigkeit und auch Träume von einem sich wohl nicht mehr erfüllenden Lebensabend in Zweisamkeit erzählt.

      Über diesen ›sechser‹ im Leben sprachen wir auch in unseren Telefonaten. Es war ein Traum. Ich hatte Sina Einblick in die letzten Winkel meiner Seele gewährt. Ich war dankbar, dass ich mit ihr jemanden hatte, dem ich alles anvertrauen konnte.

      Unaufhaltsam rückte Sinas Kurzaufenthalt auf dem Bahnhof, Gleis 2, jetzt näher. Es waren nur sechs Minuten und davon durfte keine Sekunde ungenutzt verstreichen. Ich stand, gegen meine Gewohnheit, schon zehn Minuten früher auf dem Bahnsteig, nachdem ich mich zuvor wiederholt vergewissert hatte, dass es auch der richtige war. Ich stand da, zunehmend aufgeregter, und mir wurde urplötzlich in aller Deutlichkeit und zweifelsfrei bewusst: Das wird kein Kennenlernen; gleich werde ich der vertrauten, längst liebgewonnenen Frau gegenüberstehen.

      Endlich tauchte der Zug auf, noch in großer Entfernung, aus einer leichten Linkskurve, einer langen stählernen Schlange gleich, die das Sonnenlicht immer mal wieder reflektierte. Jetzt waren es nur noch wenige hundert Meter, der Bremsvorgang schon eingeleitet.

      Per sms hatte Sina mir mitgeteilt, dass sie im zweiten Wagen saß. Ein letztes Quietschen der Bremsen; der Zug stand – sogar eine Minute früher. Die Türen öffneten sich, und als eine der ersten trat Sina heraus, ohne Jacke, ohne Gepäck – ja, das musste sie sein. Sie kam zielsicher auf mich zu, hatte sie es doch einfacher, mich schon aus dem einfahrenden Zug heraus zu erspähen.

      Nach kurzer Vergewisserung begrüßten wir uns wie unter Golfern üblich, mit leichtem Armumlegen und angedeutetem Kuss auf die Wange. Diese Begegnung war so außergewöhnlich einmalig, nicht wiederholbar. Zwei mehr als vertraute Menschen gaben sich ein Gesicht. Jetzt war sie nicht mehr die Phantomfrau, jetzt war sie Sina.

      Und ich wusste in diesem Moment in aller Klarheit, dass sie schon lange vorher in meinem Herzen angekommen war. Empfindungen und Gefühle nahmen von mir Besitz, auf die ich so nicht vorbereitet war, mich überwältigten und wortkarg machten. Da wusste ich: das ist die Frau, die ich schon lange liebe.

      Wir standen in der Tür des Wagons, jede Sekunde auskostend. Die Abfahrt rückte schon bedrohlich näher, als Sina unvermittelt fragte:

      »Enttäuscht«?

      Ich konnte ihr hoffentlich überzeugend das Gegenteil versichern. Meine wahren Gefühle blieben aber noch mein Geheimnis.

      Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Wir schauten uns so lange wie möglich nach. Den Bahnsteig konnte ich erst verlassen als die Rücklichter sich zunehmend schneller entfernten, immer kleiner wurden und die Schranken sich wieder geöffnet hatten.

      Ihr fragender Blick und das ›enttäuscht‹ ließen mich nicht los. Ich fühlte es, auch für Sina war aus unserer Telefonfreundschaft spätestens heute mehr geworden.

      Kapitel 7

       Zwei Tage auf Sylt

      Wir telefonierten und verabredeten wie bereits früher angedacht, meinen Besuch auf Sylt für den 14. Oktober. Jetzt hatte ich noch eine knappe Stunde Zeit mich emotional auf unseren ersten gemeinsamen Tag auf der Trauminsel einzustellen, bevor der Zug in Keitum halten wird. Hier wohnt Sinas ältere Tochter Brigit mit ihrem Mann und den beiden Mädchen Christa und Petra, 13 und 11 Jahre alt. Wenn alle vier oder nur die Eltern Urlaub machen, hütet Sina Haus und Hund.

      Sina erwartete mich mit Pepe, einem Teckel. Obgleich ich sie am liebsten fest in die Arme geschlossen hätte, beließ ich

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