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paradox! Sollte ich es nicht lieben?

      Das kann ich nicht. Ich habe es gefühlte eine Million Mal im Zusammenhang mit „Harmagedon“ gehört. Harmagedon – die Mutter der Schlachten, in der alles vernichtet wird, was nicht des Überlebens wert ist. Nur die wahren Christen würden gerettet und das könnten nur die Mitglieder der Wachtturm-Organisation sein. Doch auch diese müssten sich durch treuen Gehorsam als würdig erweisen. Die klaren Maßstäbe für das Überleben kämen durch Gottes Geist nur von diesem „Mitteilungskanal“. Aber: „Wer überwindet, der wird die Krone des Lebens erhalten.“

      Diese Verknüpfung von Hoffnung, die sich als leere Versprechung entpuppte, und der Bedrohung mit Vernichtung, Strafe, die Angst vor dem Blutbad, der Endzeit hat die vergangenen Jahrzehnte meines Lebens geprägt. Ich habe einem Phantom vertraut. Ich habe mich für eine Illusion verausgabt und vergessen, wer ich ursprünglich war.

      Ich versuche, meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Ich will nicht daran denken, dass ich sechzig Jahre meines Lebens Menschen opferte, die mich nun verraten haben. Als sie das Vertrauen meiner Eltern mit ihrem Versprechen köderten, dass wir sehr bald „Harmagedon“ überleben werden, gewannen sie auch mein Vertrauen. Hätte ich mich anders entscheiden können? Ein Kind mit elf Jahren ist doppelt gebunden: von den Eltern abhängig und erfüllt von dem Wunsch, auch selbst in der neuen Gemeinschaft anerkannt zu sein. Es war die trügerische Hoffnung, dass wir eine neue Heimat finden könnten – einen Ersatz für die unwiederbringlich verlorene. Auch ich habe ihnen vertraut und alles getan, um mir die Anerkennung und den versprochenen Lohn zu verdienen – das Überleben und das ewige Leben im Paradies.

      Nun sitze ich hier und frage mich: Wer bin ich? Was ich nicht mehr sein möchte, weiß ich. Ich möchte kein angstgetriebener Mensch sein, der andere mit Angst vor einer Schlacht infiziert, die alles Leben vernichtet. Ich möchte kein Gottesbild vertreten, das nur einen strafenden, rächenden, parteiischen Gott kennt. Ich möchte nicht mehr mit einem „gut geschulten Gewissen“ handeln, das der Polizist in meinem Kopf ist, der mich ununterbrochen überwacht und alle Taten, die von den vorgegebenen Regeln abweichen, mit schlechtem „Gewissen“ quittiert. Ich will das Gewissen suchen, das wie ein Kompass als Richtungsgeber für mein Leben funktioniert und von einem Gott gegeben wurde, der sich allen Menschen liebevoll zuwendet.

      Wenn ich aber wissen möchte, wer ich bin, muss ich an die Anfänge zurückkehren. Ich werde meinen Weg betrachten und den Weg meiner Eltern. Meine Geschichte ist ein Teil der Geschichte der Donauschwaben, der Deutschen Siedler, die während der Habsburger Regentschaft in verschiedenen Gebieten, u. a. Siebenbürgen, Rumänien, in der Banater Region und der Vojvodina, siedelten. Da sich der Siedlungsraum entlang der Donau erstreckte und viele Menschen aus Schwaben stammten, entstand der Name Donauschwaben. Meine Vorfahren siedelten in der Batschka oder Vojvodina. Mir fällt auf, dass ich meinen Kindern kaum jemals von meiner alten Heimat erzählt habe. Es war auch bei uns, wie in vielen Nachkriegsfamilien, üblich, die schlimmen Erinnerungen eher zu verdrängen.

      Dann haben wir uns gedankenlos und kritiklos den neuen Ansprüchen der Sekte gefügt. Wie eifrig haben wir die früheren Verbindungen aufgegeben und waren so stolz, Untertanen der „Himmlischen Regierung“ zu sein. Die „Theokratie“, die bald die Weltherrschaft übernehmen würde und alle anderen Königreiche vernichtet.

      Dafür haben wir uns „selbst verleugnet“. Wir haben vergessen, was unsere Wurzeln waren. Wir wollten diese Rolle annehmen, für „die Mehrung der Theokratie“ zu arbeiten. Diese Rechnung ist für die Wachtturm-Organisation gut aufgegangen. Sie ist in den vergangenen sechs Jahrzehnten von weniger als 300.000 Mitgliedern weltweit auf mehr als sieben Millionen angewachsen.

      Nun, ich gehöre jetzt nicht mehr dazu. Ich muss mich nun nicht mehr an die unmenschlichen Forderungen halten, die genau regeln, mit wem ich befreundet sein kann und mit wem nicht. Das ist sehr gut.

      Jetzt möchte ich davon erzählen, wer wir waren und wie es früher war. Dass ich das eines Tages tun wollte, war mir schon immer klar.

      Aber wie soll ich nun herausfinden, wer ich ursprünglich einmal war? Mit wem habe ich als Kind gelacht und geweint? Was habe ich früher gespielt? Leben noch Menschen, die unsere Nachbarn waren? Welches Leben haben wir vor dieser unsäglichen Zeit der Illusion von einem nahenden Paradies gelebt? Angestrengt versuche ich, in meiner Erinnerung einen Anhaltspunkt zu finden, der mich wieder zu mir selbst zurückführen könnte.

      1953, wenige Wochen vor meiner Taufe als Zeugin Jehovas, erhielt ich zum letzten Mal für viele, viele Jahre Geburtstagsgeschenke. Das wichtigste Geschenk war für mich eine Agfa-Box-Kamera. Ich sehe sie von meinem Platz auf dem Sofa aus in der Schrankwand stehen.

      Ihr verdanke ich einen kostbaren Schatz: das Fotoalbum! Ich hole es aus dem Regal. Es ist ziemlich verstaubt. Wie viele Jahre habe ich nicht mehr darin geblättert? Ganz andächtig beginne ich, die Bilder zu betrachten: meine Großmutter, eine zierliche Frau in typisch donauschwäbischer Kleidung. Sie war immer etwas streng. Ich hatte ein bisschen Angst vor ihr. Wir Kinder redeten sie nur in der dritten Person an. Aber nun überkommt mich eine Welle der Zuneigung. Ich weiß ganz sicher, dass sie mich auf ihre Weise geliebt hat.

      Meine Onkel, Tanten, Vettern und Kusinen sah ich nach meiner Taufe als Wachtturm-Anhängerin nur noch selten. Viele Möglichkeiten für Familientreffen, wie Weihnachten, Ostern, Geburtstage, mussten wir absagen. Ich habe wohl Tausende Male gesagt: „Wir feiern kein …, weil das ein heidnisches Fest ist, und wir halten uns strikt an die Bibel.“ Kritiklos haben wir diese Begründung einfach weitergeplappert. Dass sie bei genauerer Betrachtung unhaltbar ist und an den Haaren herbeigezogen, hielten wir schlicht nicht für möglich. Unser Vertrauen in die Quelle solcher Lehren war unerschütterlich. Hochzeiten und Beerdigungen waren dagegen unter der Voraussetzung erlaubt, dass streng darauf geachtet wurde, sich nicht an sogenannten heidnischen Bräuchen oder einer Geste der falschen Anbetung zu beteiligen. Regelmäßige Kontakte zu Freunden und Verwandten, die keine Anhänger der Wachtturm-Religion waren, wurden so erschwert. Es kam nicht selten zu peinlichen Situationen bei Familienfesten, wenn wir uns zum Beispiel weigern mussten, jemandem zuzuprosten mit der Begründung, die Geste sei heidnischen Ursprungs, weil man mit dem Anstoßen der Gläser Dämonen vertreiben wollte. Was war mir das unangenehm! Wir waren einfach Spaßbremsen. Wenn wir uns aber zu seltenen Gelegenheiten trotzdem bei Verwandten trafen, lauschte ich mit offenem Mund den Geschichten aus der Vergangenheit. Irgendwann begann ich, mir aus dem Gedächtnis Notizen zu machen.

      Es ist paradox: Obwohl ich es als Teil der alten Welt vergessen sollte, notierte ich mir vieles. Damals legte ich mir selbst gegenüber keine Rechenschaft ab. Heute kommt es mir so vor, als hätte mein verschüttetes ICH dafür gesorgt, dass meine Wurzeln nicht ganz verlorengehen.

      Meine Wurzeln wieder wachsen lassen … Wie kann ich dafür sorgen? Ich erinnere mich an den Schuhkarton, in dem ich die Aufzeichnungen ab der Geburt meiner Kinder gesammelt hatte. Ich wollte unsere Vergangenheit für sie bewahren.

      Und heute? In mir reift ein Entschluss: Ich werde in die Erinnerungen meiner Familie reisen. Ich will wissen, wer wir Donauschwaben waren.

      Meine ersten Notizen stehen auf einem DIN-A 5-Spiralblock: Am Morgen des 13. November 1938 verspürte meine Mutter die ersten Anzeichen meiner bevorstehenden Geburt. Gerade als sie die Petroleumlampe anzündete und wieder auf das Wandbord stellen wollte, welches mein Vater gemacht hatte, hielt sie plötzlich die Luft an und umfasste mit beiden Händen ihren Bauch. „Das war ein Albtraum“, erzählte meine Mutter. Eine Geburt ausgerechnet an einem 13.! Die Großmutter hatte sie am Abend zuvor gewarnt: Das Baby solle nicht am 13. geboren werden. Das würde Unglück bringen. Mutter hat immer wieder davon erzählt, dass sie nach ihrer Hochzeit regelmäßig zum „moje“ zu ihren Eltern gingen. Es war ein Ritual, einmal in der Woche den Abend gemeinsam zu verbringen. Am 12. November 1938 war wohl die Stimmung bei meinen Großeltern sehr bedrückt, denn in der Wochenzeitung „Die Donau“, die mein Großvater für seine Kunden im Friseursalon abonniert hatte, gab es beunruhigende Berichte über Judenhass und die immer stärker werdende Bewegung der Nationalsozialisten im Deutschen Reich. Kunden meines Großvaters, die Juden waren, äußerten sich sehr besorgt.

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