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      Der restliche Tag ist fast bis auf die Minute genau durchgetaktet. Nach dem Gottesdienst schicke ich eine E-Mail ans Pfarrkapitel. Schon vor dem Gottesdienst haben Bekannte, Freundinnen und ehemalige Kollegen in Oberfranken Post von mir bekommen. Die Nachbarschaft fand einen Brief im Briefkasten. Ein Kaffee, etwas Schokolade, dann steht das Fernsehen vor der Tür. Ein Radioreporter ist auch mit dabei. Schon Tage zuvor hatte ich mich mit einem Journalisten getroffen, der meine Geschichte aufgeschrieben und zeitgleich mit dem Ende des Gottesdienstes auch veröffentlicht hat. In der Folge brummt mein Mobiltelefon den ganzen Tag. Darauf war ich zwar vorbereitet, aber die Wirklichkeit fühlt sich trotzdem ganz anders an. Selbst die große Boulevardzeitung ruft an. Deren Internetredaktion hat schnell einen Text dazu veröffentlicht und seit 13 Uhr 30 gehört mir auch die Headline auf der Internetseite der Lokalzeitung.

      Draußen wird es irgendwann dunkel, der Wind pfeift noch immer ums Haus. Ich bin hungrig, aber zum Kochen fehlt mir die Ruhe. Normalerweise koche ich gerne, aber heute gehe ich in die Pizzeria am Ort. Ich bin auf alles gefasst nach diesem Tag mit dem Outing in der Kirche, den etlichen Anrufen und Reporter-Fragen, den vielen Mails von Kolleginnen und Freunden. Keine Kritik, keine Aggressivität, alle reagieren wohlwollend, einige mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen. Andere auch lapidar – etwa mit: „Ich hab’s schon immer geahnt!“ Im Restaurant bin ich nicht die erwartete grüne Giraffe, keiner schaut mich anders an als sonst. Die meisten haben wohl weder Radio gehört noch im Internet schon mal die Zeitung von morgen gelesen. Ich aber fühle mich heute Abend unendlich frei.

      Immer war ich anders. Die Frau, die zu männlich ist. Die Frau, die Frauen liebt. Seit meinen Kindertagen geht das so. Wegen dieses Andersseins habe ich viel Ablehnung und Unverständnis erlebt. In der Familie, von Gleichaltrigen in der Schule, im Studium, von Kollegen. An diesem 29. Oktober 2017 habe ich dieses Anders sein abgelegt. Ich habe mich aus falschen Hüllen gehäutet, meine Identität als Frau abgelegt. Öffentlich, laut und klar ausgesprochen. Worte sind zu klein, um zu beschreiben, was in mir los ist. Zuhause lese ich noch viele Mails, ich richte ein neues Profil in den sozialen Netzwerken ein. Sebastian, nicht Silke.

      Inzwischen ist es Montag. Irgendwann weit nach Mitternacht wird klar: Mir gehört morgen die Titelseite der Regionalzeitung, vierspaltig. Guten Morgen, Welt, hier ist dein Pfarrer. Mein neues Leben hat gerade begonnen.

      Das Mädchen mit den Bauklötzen

      Silke ist das zweite Kind der Familie, als sie am 3. Oktober 1971 zur Welt kommt. Ihr Bruder ist rund acht Jahre älter. Der Vater stirbt völlig unerwartet etwa ein halbes Jahr, bevor sie in die Grundschule kommt. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Zwei Wochen vor der Bürgermeisterwahl. Seine Plakate tragen nun einen schwarzen Balken. Über Probleme oder Sorgen wird in der Familie nicht gesprochen. Eine richtig intensive Beziehung hat Silke nur zum Vater des toten Vaters. Mit ihrem Opa verbringt sie als kleines Mädchen Stunde um Stunde in der Werkstatt – doch geredet wird auch dort nicht. Die Einsamkeit ist ihr ständiger Begleiter. Sie lernt, sich damit zu arrangieren. Sie lernt das Verdrängen, das Sich-Verstecken, das Außen-vor-Bleiben.

      Einmal dürfen die Mädchen für eine Woche ihre jeweilige Lieblingspuppe mit in den Kindergarten bringen, die Jungs ihre Lieblings-Kuscheltiere. Für Silke ist diese Woche furchtbar. Ihr bester Sandkasten-Freund hat seinen heißgeliebten Plüschhund dabei, Silke gar nichts. Sie besitzt nicht mal eine Puppe. Sie kann damit nichts anfangen, es interessiert sie nicht. Wenn die kleine Silke mal mit in einen Spielzeugladen darf, huscht sie schnell zu den Stofftieren oder den Legosteinen. Doch weil sie nicht die einzige sein will, die keine Puppe mitbringen kann, geht sie mit ihrer Mutter schließlich eine kaufen. Eine Jungen-Puppe, das ist ihr wichtig. Doch sie spielt kaum damit, die Puppe wird zum Alibi, wie später so vieles.

      Silkes Mutter ist es glücklicherweise egal, mit was sie spielen will. Zum einen bedient sie sich im ausgemusterten Fundus des großen Bruders. Zum anderen sind die 1970er-Jahre noch nicht die Zeit des durchgegenderten Spielzeugs. Ihre Eltern – vor allem die Mutter – sind geprägt vom Geist der 68er-Bewegung. In ihrem Elternhaus herrscht eine gewisse Liberalität, vielleicht auch Laissez-faire. Silke kommt das zupass. Auch die Kleidung der Zeit ist nicht mädchenrosa oder bubenblau. Gegen Kleidchen und Röcke wehrt sie sich zumeist standhaft. Nur auf der Hochzeit ihres Lieblingsonkels, der ihr einen großen Stoffhund geschenkt hatte, den Sebastian bis heute hat, muss sie ein Kleid tragen. Und auf der Beerdigung des Vaters. Einer von vielen Gründen, weshalb Silke sich dort vollkommen deplatziert fühlt. Aber mit sechs Jahren macht man in dieser Situation kein Theater.

      Weder ihr noch ihrem Umfeld fällt aber damals etwas auf. Es sind viele Kleinigkeiten, die einen in der Summe vielleicht hätten hellhörig werden lassen können. Oder eben auch nicht. Mädchenkram interessiert Silke damals jedenfalls nicht. Basteln, Puppenspielen, Verkleiden, Frisieren ist ihr einerlei, der von den Jungen getrennte Handarbeitsunterricht eine Qual. Manche ihrer Klassenkameradinnen treffen sich nachmittags, um an ihren Werkstücken weiterzuhäkeln. Sie zieht sich ihre Hose mit den Flicken an den Knien an und fährt mit den Jungs Rad, stromert durch den Wald, spielt Räuber und Gendarm – oder werkelt eben mit dem Opa in der Werkstatt mit Holz, Metall und Elektrozeug. Die Haare gehen höchstens bis zur Schulter und sind Silke selbst dann noch zu lang. Die Mutter schüttelt über so etwas zwar den Kopf, mehr aber auch nicht.

      Ab und zu aber kommt es dann doch zum Krach. „Sei doch nicht immer so jungenhaft“, sagt die Mutter dann – oder: „Musst Du immer wie ein Junge auftreten?“ Irgendwann erzählt ihr die Mutter, dass sie in der Schwangerschaft fest davon ausgegangen sei, einen zweiten Jungen zu bekommen. Den Jungennamen hatten die Eltern zuerst ausgesucht, Axel sollte sie heißen. Silke hatten die Eltern nur für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle rausgesucht. Eine quasi unfehlbare Geschlechtsbestimmung per Ultraschall wie heute gab es Anfang der 1970er-Jahre noch nicht. Silke denkt: Schade, dass ich kein Junge geworden bin! Das wäre so schön gewesen.

      Die Grundschulzeit erlebt Silke sehr zwiespältig. Für sie ist es ganz normal, so zu sein, wie sie ist. Aber in vielen Situationen lassen die anderen Kinder sie schon merken, dass sie nicht richtig dazu passt. Sie erfährt auch Ablehnung in der Schule, sie wird auf dem Schulweg von anderen bedrängt, reden kann sie darüber mit niemandem. „Ich habe mich relativ früh damit abgefunden und daran gewöhnt, ein Einzelgänger zu sein“, sagt Sebastian heute. Wenn die halbe Klasse auf einem Kindergeburtstag eingeladen ist, fährt Silke alleine Fahrrad. Als sie zu den Pfadfindern will, wird ihr gesagt, dass nur Jungs mitmachen dürfen. Die Jungs schicken Silke zwar nicht direkt weg, sie ist sogar oft mit dabei – aber nur, wenn sie selbst die Initiative ergreift. Fast keiner holt sie dazu. Nur der Sandkastenfreund hält zu ihr und manchen Nachmittag verbringen sie zusammen im Wald, oder sie entwerfen ganze Legowelten. In der Klasse sitzen alle in einem großen U. Links von ihr sitzen die Mädchen, rechts von ihr sind die Jungs. Silke hat den Platz genau in der Mitte.

      Noch viel schlimmer wird es, als Silke auf das Gymnasium wechselt. Sie und vier andere aus ihrer Klasse dürfen dorthin. Doch ihr Freund aus Sandkastenzeiten sitzt jetzt lieber neben einem Jungen. Die erste Zeit der Pubertät erlebt Silke wie im falschen Film. Mit dem Mädchen-Gekicher kommt sie überhaupt nicht klar, die Jungs aber grenzen sich klar von ihr ab. Doch deren Imponiergehabe imponiert Silke nicht, sie will viel lieber mitmachen. Wenn die Jungs auf dem Gang vor dem Klassenzimmer zum Spaß raufen, will sie mitraufen – und wird weggeschickt. Das ist für sie ein Affront. Silke wird wütend, aggressiv, sucht den Streit mit den Jungs, bis zur gewaltsamen Auseinandersetzung.

      Zu Hause findet Silke auch in dieser Zeit wenig Halt. Die Mutter ist Witwe, die Familie nach dem Tod des Vaters in Sebastians Augen nahezu zerbrochen. Der große Bruder, schon im Studium, macht längst sein Ding. Gespräche über persönliche Dinge gibt es selten, schon gar nicht über Gefühle oder Probleme. Noch vor der Grundschule scheitert der letzte Versuch Silkes, sich ihrer Familie anzuvertrauen: Als Kindergartenkind glaubt sie, dass unter ihrem Bett ein Wolfsrudel wohnt, das sie beschützt. Damit sich die Wölfe nicht bedroht fühlen, darf sie aber nicht bis zur Kante des Bettes laufen, sondern muss einen Meter davor abspringen. Als sie das ihrer Oma, der Mutter ihrer Mutter, erzählt, kniet sich diese mit ihr vor das Bett, um ihr zu erklären, dass da gar keine Wölfe sind. Ab diesem Zeitpunkt beschließt Silke, nichts mehr über sich zu erzählen. „Ich werde

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