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im Wäldchen. Kein Dorfbewohner durfte dieses Territorium betreten. Man hörte nur Akkordeonmusik und ab und zu sah man, wie eine Frau im Kopftuch und mit einem Brotkorb ins Wäldchen schritt. In manche Baumrinde waren kyrillische Buchstaben geritzt. Patronenhülsen lagen noch viele Jahre im Wald herum. Kahlisch suchte oft gezielt danach und er wurde nur einmal fündig. Goldfarben lag die Hülse in seiner Hand. Neben dem Zündhütchen waren Zahlen und Buchstaben eingeprägt. Er grübelte über deren Bedeutung und sagte schließlich zu sich: – Pistole.

      Und die Bauern vergruben im Birkenbusch heimlich die verendeten Jungtiere. Das sollten spielende Kinder nicht entdecken.

      Kahlisch will Klarheit. Er macht sich auf den Weg zum Birkenbusch, mit ihm seine Gedanken, seine Gefühle, seine Überlegungen von damals, die sich mit jenen von heute verbinden.

      Ein breit angelegter Fahrweg für Landwirtschaftsmaschinen führt Kahlisch an das Wäldchen heran. Abgestellte Geräte säumen den Waldrand. Durch die Felder führt der tiefe Graben einer im Bau befindlichen Wasserleitungstrasse, nahe am Wäldchen vorbei. Kahlisch ist allein und betritt den einzigen Trampelpfad des Waldes. Die Einsamkeit befällt ihn wieder. Er schreitet still dahin, sieht durch die Bäume auf das Dorf und trifft auf einen Jungen, der im Erdboden gräbt und einen Wall anlegt. Kahlisch spricht ihn auf sein Vorhaben an. Zögerlich erhält er die Antwort – es wird eine Rennstrecke für Fahrräder. Der Junge wendet sich ab und gräbt ruhig weiter. Kahlisch denkt, während er ihm zusieht, dass keiner den Jungen hier verscheuchen wird, er wird seine Tätigkeit in Ruhe und selbstverständlich weiterführen, bis die Fahrstrecke angelegt ist, – später werden die Freunde dazukommen und die wilde Jagd durch das Wäldchen wird beginnen, – Vogelnester werden die Kinder nicht suchen und die kyrillischen Buchstaben an den Bäumen sind längst verwachsen.

      Kahlisch merkt die Veränderung augenblicklich und geht aus dem Wäldchen, begegnet einem Hund, der zielgerichtet vom Besitzer zum Wald geschickt wird – Such!, hört Kahlisch noch.

      Er verspürt einen kalten Schauer, läuft zügig auf das Dorf zu, über die kleine Brücke am Bach, an der Schmiede vorbei und setzt sich in sein Auto. Die Entzauberung des Birkenbusches hat für ihn schon begonnen.

      Der Bergbau spielte im Ort keine wesentliche Rolle mehr, aber man traf immer wieder auf Formulierungen und Handlungen der Leute, die tief geprägt waren von der Kohleförderung und vom Erzabbau, der dem Landstrich den Namen gegeben hatte.

      Das Bergmännische wurde wieder wach, wenn die Leute beieinandersaßen und Familiengeschichten und Lebensweisheiten erzählten.

      Kahlisch hörte genau hin, wenn er in diese Berichte und Handlungsabläufe der Bergleute einbezogen wurde. Er lebte mit diesen Leuten Tür an Tür, ging mit ihnen zur Kegelbahn und tanzte auf einer Bergmannsfeier sogar in einem Volkstanz mit, extra für die Kohlekumpel. Er kannte sich in den Begebenheiten aus, denn Kahlisch wäre fast auch ein Bergmann geworden, aber Maurer waren damals mehr gefragt.

      Doch die Wismutkumpel, die im Ort lebten und im Bergbau arbeiteten, konnten nicht an die alten Traditionen anknüpfen. Sie verhielten sich anders. Das Bergmännische und Ehrenhafte fehlte ihnen. Sie arbeiteten im Schacht, waren aber keine richtigen Bergmänner für die Leute im Dorf. Diese nannten sie verkommene Gestalten, Raubeine, Gestrauchelte, auch Alkoholiker, wenn sie zu viert oder fünft die Dorfstraße heraufgegrölt kamen oder am Morgen vom Wismutbus abgeholt wurden. Schon der Name dieses grauen Gefährtes war ungewöhnlich, ZIL 150 ZISS, mit schmaler, langgezogener Kühlerhaube. Der Bus hatte ein extra Fahrerhaus. Die Kumpel stiegen durch die Mitteltür in das Fahrzeug ein.

      Wenn der Sonderbus durch den Ort fuhr, lag etwas Furchteinflößendes in der Luft. Die Leute gingen in ihre Häuser oder schauten hinter der Gardine auf diese „graue Maus“. Kahlisch hatte immer das Gefühl, dieser Bus fahre die Kumpel, dort oben im Gebirge, direkt in das Bergwerk ein.

      Jeder im Ort wusste, dass man bei der Wismut gut verdienen konnte.

      Man sprach auch vom Wismutschnaps und vom Sonderdeputat für Briketts. Die meisten Wismutkumpel hatten eine Familie, für die angeschafft wurde, die gut von ihnen lebte. Im Sommer gab es immer Familienurlaub an der Ostsee.

      Eines Tages war Zahltag bei der Wismut. Kahlisch sollte etwas Unvergessliches erleben.

      Er wurde gebeten, an diesem Ereignis teilzuhaben. Mit großem Tamtam lud ihn das Wismutkumpelehepaar, das er gut kannte, zu ihrem und seinem Vergnügen ein, die Wohnung mit geschlossenen Augen zu betreten.

      Rocky, der Kumpel mit der ostseegebräunten Haut, hatte das große Geld nach Hause gebracht.

      Als Kahlisch die Wohnung betrat und sich umschaute, blickte er in das strahlende Gesicht der Ehefrau und erkannte ein fassungsloses Glück. Sie zeigte auf Wohnzimmer und Küche, wo Geldscheine dicht an dicht auf Fußboden, Stühlen, Sesseln und Schränken ausgelegt waren. So, als wären diese Geldscheine herniedergerieselt. Kahlisch hatte keine Worte für das, was er sah.

      Er sah nur die funkelnden Augen beider Eheleute.

      Sie waren immer abwechselnd auf ihn gerichtet und auf die vielen Scheine, die den Teppich und die Möbel bedeckten.

      Kahlisch wollte dies irgendwie für sich einordnen und versuchte sich vorzustellen, dass ein Schein genügte, wenn er am Wochenende tanzen ging, zwei, drei Bier holte, den Eintritt für den Tanzsaal bezahlte und seine Freundin an die Bar einlud.

      Kahlisch dachte, während er zu Boden sah, dass er dann immer noch genügend Taschengeld für die darauffolgende Woche hatte, und hier lagen Jahrzehnte von solchen Wochenenden.

      Er freute sich nicht besonders mit den beiden, die ihn in die Wohnung geholt hatten. Nur die Bilder prägten sich bei Kahlisch ein.

      Das beglückte Ehepaar stachelte ihn immer wieder an, sich genauso zu freuen, wie sie sich freuten. Er war mit sich im Ungleichgewicht.

      Etwas störte ihn. Rocky, der Gebräunte, sagte zu Kahlisch, es ist auch noch die Hauerprämie dabei. Er blickte zu Boden und suchte sie vergeblich.

      Es fiel ihm ein, dass der Kumpel eine Spielschuld vom letzten Skatabend bei ihm hatte, die er nicht hatte begleichen können, weil er kein Kleingeld bei sich trug.

      Über einen unverhofften Schein vom Fußboden hätte sich Kahlisch jetzt gefreut, aber der blieb aus.

      Der Wismutkumpel hatte dies nicht mehr auf seinem Schirm, Kahlisch die Spielschuld auszuhändigen, und vergaß es auch fürs Lebens. Dafür war Kahlisch Mitwisser und Träger dieses gut gehüteten Geheimnisses am Zahltag bei der Wismut.

      Richtig verstehen konnte Kahlisch dieses Erlebnis erst viele Jahre später, als der damalige Wismutkumpel Rocky schon lange im Westen lebte. Er geht jetzt an Krücken, sagte neulich ein anderer Skatfreund zu Kahlisch, die Verstrahlung der Beine ist nur der Anfang vom Ende.

      Als Kahlisch im Internet suchte, fand er über den Uranabbau in der vierzigjährigen Geschichte der Wismut auch die Uranbelastungen der vor Ort arbeitenden Kumpel. Die Hauerprämie war die Bezahlung für die Zerstörung ihrer Gesundheit gewesen. Kahlisch ging an diesem Abend zum Seniorentanz, kaufte sich zwei Bier und lud seine Tischnachbarin zu einem Cocktail an die Bar ein.

      Es gab heute schöne Wellen auf dem Teich, der hinter dem Gehöft lag. Im Laufe des Sommers war das Gras bis in das Teichwasser hineingewachsen. Das Wasser fühlte sich warm an und war vom letzten Regen lehmig-braun gefärbt.

      Kahlisch lag gedankenversunken auf dem Bauch am Teichufer und hatte beide Arme tief in das Wasser getaucht, fühlte nach Teichmuscheln und Fröschen. Mit den Augen knapp über der Wasseroberfläche, sahen die Wellen so groß wie Meereswogen aus. Kahlisch dachte an den letzten Film im Dorfkino.

      Er saß mit kurzen Hosen und barfuß im verdunkelten Tanzsaal der Gaststätte und schaute auf das Segelschiff, das auf dem Meeresgrund lag. Die Jungen im Film tauchten danach

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