Скачать книгу

stieg.

      Neun Minuten Verspätung.

      Eine Blamage. Die Ministerin fasste die Verzögerung als persönliche Kränkung auf, also konnte das Ansteigen ihres Blutdrucks gar nicht befremden. Sie empfand das Ärgernis als dermaßen peinlich, dass sie am liebsten Amnestan inhaliert und von vorn angefangen hätte. Aber der erste Einsatz des GR-TES (Großraum-Toxoiderkennungsscanners)-Systems Argus Panoptes sollte als offiziell-öffentliche Veranstaltung stattfinden. Folglich wartete die Ministerin keineswegs als Einzige: Die Ordnungsamt-Techniker im mit dem AP-Pfauenschwanzlogo geschmückten telemetrischen Messdienstwagen, Dutzende von Mitarbeitern mehrerer privater Sicherheitsdienste und des Ordnungsamtes in ihren Mannschaftsfahrzeugen, eine Schar Medienreptilien, die mit Mienen der Ratlosigkeit ihre Übertragungswagen umstanden, alle warteten sie auf den neuen Hightech-Erlöser Argus Panoptes, ein Spinoff-Produkt der Krause-Sprengstoffscanner für Flughäfen. Doch wie jeder waschechte Erlöser ließ offenbar auch Argus Panoptes sich Zeit mit seinem Erscheinen. Der erdstrahlenfeste Rollbildschirm des Bordcomputers blieb dunkel.

      Zwölf Minuten Verspätung.

      Ungehalten schaute die Ministerin hinüber zum Messdienstwagen und aktivierte durch zweimaliges Zwinkern mit dem linken Lid die Teleskopzellen der Seitenscheibe. Die Vergrößerung ließ Köpfe hinter den Wagenfenstern erkennen, gab jedoch keinerlei Aufschluss über die Vorgänge im Innern. Frech schien das überlegen vieläugige Emblem des Wagens den Blick der Ministerin zu erwidern. Ihr Missmut wuchs.

      Sie sah den Staatssekretär an. Obwohl er einen tres chic Nanoflux-Anzug in der Modefarbe Russian Night trug, damit er mit ihrem offensiven Imagestyling harmonisierte (selbstverständlich ermutigte sie ihre Untergebenen zum Tragen von SmartClothes mit vollintegrierter nanoelektronischer Ausrüstung, allerdings maximal bis zur Marke Nano Markant Plus), wirkte er, wie er da in einen Winkel der antistatisch imprägnierten Sitzpolsterung geschmiegt saß, ziemlich eingeschüchtert. Neben offensivem Imagestyling betrieb die Ministerin nämlich eine aggressive Körperpolitik. Sie beanspruchte viel Platz. Dreieinhalb Sitze für sich, Clutchbag, Rollcompu und Waffentresor.

      Sobald die Ministerin den Staatssekretär anblickte, zog er ein Gesicht, als stockte ihm der Atem. Er handelte in Vertretung und fühlte sich offensichtlich unsicher im Umgang mit selbstbewussten Frauen. Eine unvermutete Sauerstoffallergie hatte die Pressesprecherin befallen, und der Oberstaatssekretär, der hatte einspringen sollen, litt seit einigen Tagen an diffusen Koliken. Heutzutage galten alle Krankheiten als diffus. Und diffus blieb auch die Gesundheit.

      »Fragen Sie mal nach, was los ist.«

      Sofort entrollte der Staatssekretär ein Telefon, kontaktierte per Kurzwahl den Messdienstwagen und fragte die Techniker nach dem Stand der Dinge.

      Fünfzehn Minuten Verspätung.

      Der Ministerin drohten die Nerven zu zerfransen. Inzwischen fiel ihr das Geschiebe des Latexpenis lästig. Sie berührte am linken Ärmel des Nanoflux-Hosenanzugs einen kleinen weißen Punkt, und es kam Ruhe in ihren Unterleib, der Latexpenis schrumpfte, als hätte er seine Schuldigkeit getan. Mit dem Fingernagel tippte die Ministerin auf einen anderen, grünen Effektor. Unverzüglich diffundierte das Anzugfutter naturbelassenes Kamelienöl (das sie auf Anraten der Diplom-Kosmetologin ihres Vertrauens benutzte) auf ihre Haut und ergänzte es um die Wirkstoffe Rejuvenil und Revitarium.

      Es half nichts. Die Ministerin verkrampfte sich innerlich und äußerlich immer stärker.

      Achtzehn Minuten Verspätung.

      Während der Staatssekretär telefonierte, dachte die Ministerin darüber nach, ihre Köchin anzurufen und zum Nachtisch Weichselkirschen mit Schokoüberzug zu bestellen, gelangte jedoch zu der Auffassung, damit vielleicht einen schlechten, nämlich den Eindruck der Verfressenheit zu erregen. Alternativ zog sie in Erwägung, sich vom Fahrer, einem älteren ADAC-Exfunktionär, der sich in einer Haltung gänzlicher Teilnahmslosigkeit, in der er dem Standbild eines Stoikers glich, neben dem Wagen ins Abwarten schickte, aus dem Bahnhof ein biologisch gereiftes Matjesfilet holen zu lassen, hegte aber Bedenken gegen den unvermeidlichen Teflon-Beigeschmack der Robot-SnackMaker-Fressalien.

      Im Laufe des Telefonats sagte der Staatssekretär viele Male »Ja«, auch »Ja-ja«, äußerte häufig ein »Aha« oder »Aha-aha«, bis er es schließlich mit einem satten »Ach so« beendete. »Es wird nicht mehr lange gebraucht«, erklärte er der Ministerin. »Die Inbetriebnahme des AP-Systems steht unmittelbar bevor.«

      Die Ministerin wölbte die Brauen. »Ach wirklich?!«

      Zwanzig Minuten Verspätung.

      Inzwischen gewannen Ungeduld und Nervosität beider Fahrzeuginsassen einen so hohen Grad, dass ihre Stressausdünstungen den Bordcomputer automatisch veranlassten, die Aromaspender zu aktivieren und Benignatoren, Aerosole der psychotropen Pharmakologie, zu verstäuben, vor allem Frustkiller wie Euphorasol, Altruisan und Felixol. Gleich darauf wurde die Ministerin von schönen Gefühlen geradezu überwältigt. Entspannung lockerte ihren Muskelapparat, ihre Atmung ging leichter, ihr wurde froh und licht zumute, ihr kam alles nicht mehr so schlimm vor. Sie hätte den Staatssekretär umarmen und den Fahrer befördern können. Doch zur Verhütung eben solcher Nebenwirkungen durften derartige Wohlgefühle nicht zum Dauerzustand werden. Darum stellte der Bordcomputer die Aerosolversprühung schon nach wenigen Sekunden ein.

      Da zum Glück beliebte Argus Panoptes – mit zweiundzwanzig Minuten Verspätung – endlich zu funktionieren. Auf dem Monitor erschien kurz das Pfauenschwanzlogo, dann eine virtuelle, dreidimensionale Rasterdarstellung des Hauptbahnhofs mitsamt Vorplatz. Zwischen den gelben Linien bewegten sich winzige Punkte und kleine Pünktchenkonglomerate in Rot, das Bahnhofpublikum. Auch auf der Großbildwand prunkte jetzt das AP-Logo.

      Die Idee zu Argus Panoptes beruhte auf dem legendären Radevormwalder Modell: Im Jahre 2007 begab sich der Bürgermeister der bis dahin der Welt unbekannten Ortschaft Radevormwald gemeinsam mit Ordnungsdienstlern auf die Straße, um durchs Verteilen von Bußgeldern das öffentliche Alkoholtrinken zu unterbinden. Diese Aktion hatte der Ministerin schon damals, als sie erst noch Ministerin hatte werden müssen, so vorzüglich gefallen, dass sie sich vornahm, das Gleiche eines Tages flächendeckend auf ganz Deutschland auszudehnen. Doch sie wusste, dass es sich empfahl, so etwas streng wissenschaftlich anzupacken. Erst die jüngsten Fortschritte auf dem Gebiet der Messtechnik hatten es möglich gemacht.

      Sobald Wellenlinien durchs 3D-Abbild des Bahnhofsgeländes wallten, öffnete der Staatssekretär seinen Wagenschlag, stieg mit einer gewissen Erleichterung aus und strebte hinüber zum Pulk der längst dösig gewordenen Medienvertreter. Die Wellen verwiesen auf Argus Panoptes’ laserspektroskopische Tätigkeit. Mit nickelfreien Computern vernetzte Sensortechnik-Infrarotlaserdetektoren erfassten per Molekülspektroskopie Alkoholgase, die Emissionen des Alkohols und des Suffs. Störsubstanzen wie Parfüm, Deodorants, Desinfektionsmittel und Plastiksahne konnte das AP-System einwandfrei unterscheiden. Es hatte eine Reichweite von 800 Metern.

      Während der Staatssekretär dem muffig gelaunten Medienklüngel eine kurze Einführung vortrug, wechselte das Rot mehrerer Pünktchen zu Blau. Die Teledetektoren hatten Verüber mit Alkohol korrespondierender Ordnungswidrigkeiten entdeckt. Aus Entrüstung schwollen der Ministerin von Neuem die Adern.

      Ohne Verzug leerten sich die Mannschaftswagen, hallten in Form markiger Kommandos dienstliche Anweisungen über den Bahnhofsvorplatz. Sicherheitsdienstler aller beteiligten Firmen und Ordnungsamtskräfte schwärmten aus, um der Übeltäter habhaft zu werden. Vorsichtshalber hatte man ihnen Herkulin injiziert, vielleicht sogar Rabiatin, aber Letzteres hieß die Ministerin nicht gut und mochte darüber auch gar nicht Bescheid wissen. Ihr genügte es, wenn man die Schluckspechte mittels Augenschein identifizierte und ihnen Bußgelder aufbrummte.

      Pünktlich beendete der Staatssekretär seine Darlegungen, gerade als sich die Großbildwand senkrecht in zwei Fenster teilte. Das AP-Logo schrumpfte in die linke Hälfte, auf der rechten Seite sah man mit einem Mal die Ministerin. Freundliche Glöckchenklänge, die an Weihnachten gemahnten, warben um die Aufmerksamkeit des Bahnhofspöbels. Viele Dutzend Konsumsklaven, arme ebenso wie reiche, hoben die Glubscher und glotzten hoffnungsvoll ins Große Maul der Staatsmacht.

      Die Rede der Ministerin kam vom

Скачать книгу