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wurden. In meinen Träumen war ich aber auch Teil der anderen Welt. Es gab die erste Welt, die zweite Welt und die dritte Welt. Nachdem wir in Duisburg, Köln, Löwen, Paris, Barcelona und Zaragoza vieles gesehen und erlebt hatten, wussten wir eindeutig, dass die erste Welt der zweiten Welt überlegen ist. Als wir in Madrid ankamen, übernachteten wir bei einer Tante meines Mannes. Dort bekamen wir einen Brief von meinen Eltern. Sie waren der Auffassung, dass die Grenzen der DDR geschlossen werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele junge Menschen aus der DDR über die CSSR und Ungarn nach Österreich und in die Bundesrepublik geflohen. Obwohl wir die Enge der DDR kannten, uns oppositionell und beobachtet fühlten, kamen wir ohne einen Pfennig nach Berlin zurück. Ich war, trotz der vielen Kondome, doch schwanger geworden.

      Genau am Tag des Mauerfalls stiegen wir in Berlin aus dem Zug. Irgendetwas hing in der Luft, ich hatte ein seltsames Gefühl. Wir gingen zur Bushaltestelle des Hundertsiebenundfünfziger, warteten und warteten, kein Bus kam. Ich hatte den Eindruck, vielleicht auch ein Trugbild der Erinnerung, dass es sehr hell war, viel heller, als ich Ostberlin kannte. Irgendwann kam dann doch ein Bus und während der Fahrt erzählte uns ein junger Funktionär, wir identifizierten ihn als solchen aufgrund seines Anoraks, dass die Mauer offen sei. So könne man das doch nicht machen, meinte er. Der Bus fuhr eine andere Strecke als gewohnt, über die Heinrich-Heine-Straße, wo es einen Grenzübergang gab und viele Menschen im nächtlichen Taumel nach Westberlin wandelten. In meinen Augen war es eine Befreiung für die gesamte Stadt. Als wir in unserer Hinterhauswohnung im Prenzlauer Berg ankamen, fand ich es schön, zurück in unserer kleinen Oase zu sein. Ich wünschte damals, dass die beiden deutschen Staaten auf dem Verhandlungsweg ein geeintes Deutschland gründen würden, mit einer neuen Verfassung, und möglicherweise ein neutrales Land sein könnten.

       Hallo, liebe Scarlett,

       wie in jedem Jahr, soll ein Weihnachtsbrief entstehen. Zwischen allen Varianten des Lebens und des Todes, zwischen tief empfundener Freude und tief empfundenem Leid.

       Ana-Maria hat wieder eine Reise nach Deutschland gewagt, wir hatten zusammen eine schöne Zeit. Ich hatte mich gut auf ihren Besuch vorbereitet, so gab es viele schöne Momente, auch bei Oma und Tante Henriette hat Ana-Maria viel erlebt. Sie ist dann nach London zum Welttreffen der Pfadfinder (100 Jahre Pfadfinder) weitergeflogen und nach sechs Wochen Urlaub in Europa wieder gut in Lima angekommen.

       In der Schule wurde gerade „Effi Briest“ durchgenommen, ich habe das Buch auch noch einmal gelesen, um bei Ana-Maria mit zu lesen. Wenn man älter ist, ein Leseerlebnis von ganz anderer Art. Ana-Maria spricht sehr gut deutsch, möchte nach dem Abi im nächsten Jahr in Deutschland studieren, wenn sie gesund bleibt. Genau festgelegt hat sie sich aber noch nicht. Sie interessiert sich für Ökonomie aber auch für Fremdsprachen, hat sehr gute Voraussetzungen in vielerlei Richtungen.

       Im August gab es in Peru ein schlimmes Erdbeben, zum Glück nicht in Lima. Ich habe für die Erdbebenopfer gesammelt, mit ganzer Kraft.

       Was mir gelungen ist, ist zwölf, dreizehn Kilo abzunehmen, wobei ich mich wohl fühle. Was mir nicht gelungen ist, jeden Tag auf dem Fahrrad in meinem Wohnzimmer zu trainieren. Was mir auch gelungen ist, Textilarbeiten anzufertigen, Leseerlebnisse zu haben, manchmal etwas zu schreiben.

       Im März hatte ich eine Vernissage und eine Lesung in einem Behindertenzentrum, im Juni/Juli eine Ausstellung im Ewa-Frauen-Verein und Anfang Oktober, ebenfalls dort, eine Lesung. Danach kamen verschiedene Frauen auf mich zu, um meinen Rat zu hören und mit mir zu sprechen, was eine sehr schöne Erfahrung war.

       Kinofilme, die man sich im letzten Jahr ansehen konnte waren „Das Leben der Anderen“, wo auch ich mich, gegen die DDR schreibend, vor meiner Schreibmaschine wiederfand. „La Vie en Rose“, ein Film über Edith Piaf, sehr beeindruckend. „Blow up“, von Michelangelo Antonioni, ein Kultfilm aus den 60er Jahren.

       Im Theater waren wir im vergangenen Jahr nicht, dafür aber in der Malerei-Ausstellung „Die schönsten Franzosen“.

       Oft aber habe ich auch nur im Bett gelegen, kämpfe immer mit einem Druck um die Ohren und schlimmer Antriebslosigkeit.

       Spaß habe ich beim Kochen. Toralf schmeckt es auch wirklich gut. Spaß habe ich an vielen Dingen. In Gedanken – die Gedanken sind frei – bin ich wieder bei meinen Textilarbeiten. Ich habe ein Faible für interessante Stoffe, Borten, unterschiedliche Farbkompositionen und unterschiedliche Materialien. Ich möchte auch wieder ein wenig übersetzen. Lese „Eine gebrochene Frau“ von Simone de Beauvoir.

       Bekomme jeden Tag die „Berliner Zeitung“, nehme mir vor, sie täglich zu lesen, was mir nicht gelingt. Dann sammeln sich so an die zwanzig Zeitungen, die ich durchblättere und aus denen ich die Artikel ausschneide, die mich interessieren. Diese sammeln sich wieder und ich habe einen Lesemarathon vor mir.

       Einmal am Wochenende telefoniere ich mit Ana-Maria. Manchmal ist auch Felipe am Telefon, oder seine behinderte Schwester, manchmal auch meine ehemalige Schwiegermutter, die Infantes sind meist freundlich zu mir.

       Toralf und ich haben eine anspruchsvolle Beziehung. Ich wollte mich zwar schon oft von ihm trennen, aber die guten Seiten überwiegen, wäre ich allein, würde mir viel fehlen. Seine Mutter ist seit einem halben Jahr im Pflegeheim. Deshalb ist Toralf nicht oft in Berlin. Er kommt aus dem Münsterland und besucht seine Mutter, sooft er kann. Manchmal ist er mit dem Auto unterwegs, manchmal auch mit der Bahn.

       Von Zeit zu Zeit bestellen wir uns eine Pizza oder wir gehen essen. Für die nächste Woche habe ich mir vorgenommen, zum Weihnachtsmarkt unter den Linden zu gehen, auch an der Gedächtniskirche ist ein Weihnachtsmarkt. Viele Leute kaufen überall in Berlin Weihnachtsbäume. Ich habe meinen synthetischen Baum schon am ersten Advent aufgebaut, mit Strohsternen und Holzfiguren und einer Lichterkette behangen.

       Im September fand in Berlin, wie in jedem Jahr, das internationale Literaturfestival statt. Ein Abend mit Vargas Llosa, ich fand vieles mir Bekannte aus Peru wieder. Elke Wehr ist seine Übersetzerin. Er ist ein Schriftsteller, der schon ungemein viel geschrieben hat und seine Übersetzerin kennt ihn natürlich, übersetzt, alsbald das Buch auf dem Markt ist, ins Deutsche. Ein anderer Abend mit Isabell Allende und ihrem neuen Buch „Paula“ hat mir sehr gut gefallen. Beide Abende fanden in wunderbarer Atmosphäre statt, der Applaus hallte nach, und man hatte das Gefühl, ein Teil der Literaturwelt zu sein. Auch für Wolf Biermann hatten wir Karten. Für mich ist Biermann ein Stück Heimat, seine Stimme klingt in mir nach. Er hat insgesamt 24 CD’s herausgebracht. Ich habe mir die aktuellste gekauft und höre sie mir gern zu Hause an. An einem Abend zu Vallejo habe ich mich rundum wohl gefühlt.

       Man kann natürlich auch über meinen Brief lachen. Ich freue mich über eine Resonanz auf meinen Weihnachtsbrief. Du kannst mich auch anrufen, Internet kann ich nicht, aber ich freue mich über Deinen Brief. Wenn Du Interesse an Topflappen, Patch-Work-Vorhängen oder Bettüberwürfen hast, dann kannst Du gern etwas davon bestellen. So, bis zum nächsten Mal!

       Ulrike

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