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Fresse, Edgar? Der Junge ist tot, Mann! Kapierst du das? Der steht nicht gleich wieder auf wie in einer deiner beschissenen Serien. Der ist uns hier gerade verreckt, weil … weil …“, doch in diesem Moment versagt ihm die Stimme. Er kniet nieder und weint. Edgar spürt, wie ihm der Hals eng wird. Er kennt Fritz schon lange, aber er hat ihn noch nie weinen sehen. Und als fiele auch Fritz das gerade auf, reißt er sich ganz schnell zusammen und steht auf. Er tritt wieder so verdammt nah an Edgar heran.

      „Haust du mich jetzt?“, entfährt es Edgar.

      „Was tu ich?“

      „Nichts … jedenfalls … tut mir leid … mit Paul.“

      „Ja, super, Edgar, bringt uns nur jetzt nix, ne? Der durfte gar nicht hier sein, zum Glück weiß das nur seine Mutter, und sonst keiner, und die Alte ist eh den halben Tag voll wie ne ganze Destille. Und außerdem hat er das ja unter der Hand gemacht …“

      „ … aber gut war er!“, unterbricht ihn Edgar, weil er das Gefühl hat, noch was Lobendes sagen zu müssen, „der Paul, der war schon … nee, also … der könnte echt mal … also, ich meine vielmehr, der hätte mal können …“

      Fritz schließt nur genervt die Augen. „Ist gut, Edgar. Jetzt kann der gar nichts mehr. Also muss er weg.“

      Edgar schaut Paul einen Moment lang an. Als er in die toten Augen des dürren langen Jungen blickt, beginnt er zu frösteln. „Er starrt uns an, Fritz! Er starrt uns an, weil wir … weil wir …“

      Aber Fritz packt ihn mit beiden Händen an den Schultern: „GAR NICHTS haben wir, klar? Und gleich glotzt der auch nicht mehr, wart’s ab.“

      Er beugt sich über den gelb-rot-weißen Paul, legt eine Hand auf seine Augenlider und schließt sie. Doch sie klappen sofort wieder auf. Fritz versucht es erneut, doch wieder klappen die Lider auf.

      „Siehst du, siehst du! Ich hab doch gesagt, der starrt uns an! Mein Gott, vielleicht … Vielleicht ist er ja … So einer wie aus dieser Zombieserie. Walking Dead! So einer von denen, die einfach nicht totgehen, Fritz … aua!“

      Fritz’ linke Hand, die eben noch vergeblich versucht hat, Pauls Augen zu schließen, klatscht in Edgars Gesicht, jetzt einfach mittenrein, und sie trifft irgendwie alles, die Wange, die Nase, die Lippen. Hauptsache, denkt Fritz, er hält jetzt endlich mal die Fresse.

      Das sagt er auch: „Halt jetzt endlich mal die Fresse, Edgar!“

      Im selben Moment zieht er eine schwarze Sonnenbrille aus der vorderen Tasche seiner Latzhose und setzt sie Paul auf. „So, wieder ein Problem erledigt. Und jetzt muss der weg. Aber dalli.“

      Edgar fängt an zu weinen. Edgar weint noch seltener als Fritz, aber wenn, dann macht er das nie leise-schluchzend, so wie es Anverwandte auf einer Beerdigung tun, sondern schrill-plärrend, so wie es Kleinkinder machen, wenn der Brei zu heiß ist. Edgar plärrt, und das kommt gerade gar nicht gut.

      Wieder schnellt Fritz’ Hand in sein Gesicht, aber diesmal heftet sie sich auf seinen Mund und hält ihn zu. Seine Lippen kriechen fast in Edgars Ohr, und er flüstert: „So, mein Freund, jetzt hörst du mir zu, und ich sag das nur einmal: Wir bringen den pronto von hier weg. Ich lad den gleich in den Wagen, und dann fahren wir den … irgendwohin. In den Wald, mir scheißegal. Aber das machen wir zusammen, klar? Und dafür musst du dich ZUSAMMENREISSEN. Verstehst du, was ich sage?“ Edgar nickt und die Tränen kullern an seinen pockennarbigen Wangen hinunter, nehmen dort tapfer jeden der zahlreichen kleinen Hügel. Fritz fährt fort: „Zusammenreißen bedeutet: Nicht plärren, nicht schreien, nicht irgendwas machen, was irgendwelche Leute in diesem Kaff hier auf uns aufmerksam machen könnte.“ Edgar schnieft und nickt wieder. Dann sagt Fritz: „Was meinst du, kann ich meine Hand jetzt von deiner Schnute nehmen, ohne dass du den halben Schlossgarten zusammenplärrst?“

      Edgar nickt noch einmal und schließt die Augen, während Fritz seinen Mund freigibt. Edgar hat gar nicht gewusst, dass Fritz so fies sein kann. Geradezu böse. Wie der eine in dieser einen Serie, die ihm jetzt aber nicht einfällt. Dafür fällt ihm was anderes ein, und das ist auch der Grund, weshalb er die Augen schließt und keinen Ton von sich gibt.

      Fritz betrachtet ihn irritiert und legt den Kopf schief. „Edgar, was ist?“

      Edgar atmet tief ein und wischt die Tränen weg. Das, was ist, mag er jetzt nicht sagen.

      „Edgar, was?“

      Edgar holt tief Luft. „Es … könnte … vielleicht … sein, dass ich … heute Morgen … als es ja noch dämmerig war … dass ich da mit Licht gefahren bin …“

      „Ja natürlich hatten wir Licht an, es war halb sechs in der Früh, und … nein … Edgar, du hast nicht vergessen, das Licht auszuschalten am Wagen oder?“

      „Also wenn du jetzt eine einhunderttausendprozentige Antwort von mir …“

      „Du Vollidiot!“

      Fritz lässt von ihm ab, stürmt durch den Schlossgarten hoch auf den Schlossplatz, wo sie immer das Auto abstellen dürfen, springt rein, dreht den Zündschlüssel um, und es macht … Ratattat … Rattatat. Rat. Tat. Tat.

      Als Fritz aus dem Wagen aussteigt, macht er das in Zeitlupe. Und er guckt dabei wie der Terminator, nur ohne die Sonnenbrille. Die hat ja jetzt Paul auf. Und er schreitet, ganz langsam, auf Edgar zu. Edgar möchte rennen, aber er weiß nicht, wohin. Er schaut zu Paul hinab, und Paul schaut ihn an, auch durch die Brille hindurch, das weiß Edgar einfach, und er kriegt all das hier mit, da ist Edgar ganz sicher, oh, verdammte Kacke aber auch.

      Fritz schreitet immer noch. Auf den Rosengarten zu. Die Treppe runter. Doch plötzlich bleibt er stehen. Sein Blick wandert. Von Edgar zur Schubkarre. Von der Schubkarre auf einen Baustellenzaun. Vom Baustellenzaun auf die Marktgasse, die gleich neben dem Rosengarten so steil wie eine Skiabfahrt in Kitzbühel bis auf die Islandstraße führt. Dann schaut Fritz in die Weite, so als habe er eine Eingebung, und schließlich lächelt er. Der Terminator verschwindet auf einmal aus seinem Gesicht.

      Er tritt auf Edgar zu und sagt, fast säuselnd: „Gut, dann eben zu Fuß!“

      Edgar zieht die Augenbrauen hoch: „Was? Bis in den Wald? Wie weit sollen wir denn da laufen?“

      Aber Fritz grinst nur nachsichtig. „Bis zur Wupper. Und da setzen wir den an einen Felsen. Wie einen dieser Penner, die da schon mal hocken. Wir ziehen ihm vorher einen von unseren riesigen grünen Regenmänteln an, die wir hinten im Wagen haben. Wir tun so, als hätten wir den Kerl hier oben gefunden, setzen ihn in die Schubkarre und legen ihm ne Pulle Bier in die Hand. Dann fahren wir den schnell da runter. Und wenn er dann schön am Wasser sitzt und grade keiner guckt, dann gehen wir … einfach …“

      Edgar schüttelt hilflos mit dem Kopf. „Das hast du dir jetzt alles ausgedacht? Gerade eben? Boah! Ja, aber … da unten findet den doch direkt einer … und dann uns!“

      „Edgar: Rennst du zu einem hin, der aussieht wie ein Penner und mit ner Pulle an der Wupper sitzt?“

      „Natürlich nicht, der stinkt doch!“

      „Eben. Und Paul stinkt auch … nur … anders halt … aber da wird erst mal gar keiner hingehen. Wir müssen den nur so da hinsetzen, dass er nicht gleich umkippt. Und dann weg mit uns. Und Ende.“

      Edgar schüttelt den Kopf. Nee, irgendwie passt das alles nicht so ganz. Das Blöde ist nur: Er hat überhaupt keine bessere Idee. Er schaut sich um und entdeckt den Bauzaun, mit dem der Rundweg ums Schloss mal wieder abgesperrt ist, weil da offenbar was repariert werden muss. Er kratzt sich zweifelnd am Kopf. „Aber da müssen wir doch mitten durch die Stadt! Willst du über die Islandstraße? Wenn uns da unten einer sieht …“

      Fritz grummelt vor sich hin. „Ja, ich weiß. Aber wenn wir hier die Marktgasse runtergehen, sind wir ruck, zuck unten. Dann schnell übern Etapler Platz am Neubau vorbei und ab zur Wupper. Das sind doch keine fünf Minuten.“

      Edgar nickt langsam. Ja, denkt er, das klingt nach einem Plan. Aber nach einem, von

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