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sprechen, der geht gegenwärtig durch ein Wechselbad der Gefühle. Das Orientierungswissen der Kirchen – so kann einerseits festgestellt werden – ist selten mehr gefragt gewesen als in den letzten Jahren, da die Vorgänge an den internationalen Finanzmärkten und die globale Wirtschaftskrise, die sich daraus entwickelt hat, vieles grundsätzlich infrage gestellt haben, was noch kurz zuvor allgemeine Geltung besaß.

      Aber es gibt auch die andere Seite. Die Diskussion um die im Jahr 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in den Kirchen hat gezeigt, wie sensibel die Öffentlichkeit gerade auf diejenigen Fälle reagiert, die sich im Kontext einer Institution abspielen, für deren Selbstverständnis die Metapher vom Salz der Erde und vom Licht der Welt eine zentrale Rolle spielt. Dass sich in unserer Mitte, hinter den Fassaden der Häuser angesehener Bürger, Dinge abspielen, die die seelische Zerstörung von Kindern zur Folge haben, ist schwer genug begreiflich. Dass sich diese Dinge aber auch im Kontext einer Institution abspielen, die in der Gesellschaft immer noch als öffentliche Stimme für Moral und Menschlichkeit wahrgenommen werden möchte, ist nur schwer erträglich.

       Ehrliches Innehalten

      Deswegen ist es so wichtig, dass wir an vielen Orten in der Kirche ein ehrliches Innehalten erlebt haben. Wir haben Kirchenleute erlebt, die aufrichtiges Erschrecken zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben eine Bereitschaft zur Aufklärung erlebt, die der Wahrheit den Vorrang vor der Wahrung des Images gab. Wir haben ein authentisches Mitfühlen mit den Opfern erlebt und die Bereitschaft zu helfen, wo noch irgendeine Hilfe möglich ist.

      Diese Stimmen, aber vor allem gesellschaftstheoretische und theologische Überlegungen geben mir den Mut, heute tatsächlich von einer Kirche zu reden, die aus dem Bild Salz der Erde und vom Licht der Welt lebt, von einer öffentlichen „Kirche der Freiheit“, die weder erwählungsgewisse Selbstbestätigung pflegt noch sich an zeitgeistorientierte Unternehmensberatungsjargons anbiedert, sondern aus der Kraft Gottes die Welt wirklich liebt und in ihr den Weg Jesu bezeugt und seine heilende Kraft ausstrahlt.

      Um deutlich zu machen, was ich damit meine, will ich im Folgenden zunächst einige empirische Daten zur Situation von Religion und Kirche vorstellen, danach einige Punkte markieren, an denen sich die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen, mit denen es die Kirche heute zu tun hat, und schließlich fünf Tropfen geistlichen Lebenselixiers anbieten, die der Gesellschaft nach meiner festen Überzeugung heute neue Lebenskraft geben können.

       Religiöse Scham

      Wenn wir im Lichte empirischer Daten nach der Situation der Kirche heute fragen, dann ist die Antwort keineswegs so eindeutig, wie das die scheinbare Objektivität empirischer Forschung nahezulegen scheint. Einstellungen über Religion zu erfragen ist schwieriger, als man denkt. Wie die Frage, ob jemand betet, beantwortet wird, hängt immer auch davon ab, was als Gebet bezeichnet wird, und das ist schon unter Theologen eine durchaus umstrittene Frage.

      Auch im Hinblick auf die Selbstauskunft der Befragten bewegt man sich nicht auf sicherem Boden. Konrad Fischer hat einmal vor Jahren in einem immer noch hochrelevanten Aufsatz über die „religiöse Scham“ darauf hingewiesen, dass etwa Paare eher in der Lage sind, über ihre Sexualität zu reden als über ihre intimsten religiösen Gefühle.

      Zudem begegnen wir häufig dem Phänomen, dass Leute über Einstellungen zu Religion und Kirche im deutschen Kontext sprechen, ohne überhaupt zu merken, wie begrenzt das Flashlight ist, das damit auf die Situation weltweit geworfen wird. So können im Kopf Verfallsvorstellungen im Hinblick auf Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen entstehen, die angesichts des dynamischen Wachstums der Kirchen etwa in China oder auch in Afrika nur wenig mit der Realität zu tun haben. Aber reden wir im Bewusstsein dieser Begrenzung über den deutschen Kontext.

      Wir können – all dieser Schwierigkeiten eingedenk – einiges über die Entwicklung von Religion und Kirchenbindung sagen. Neben den regelmäßigen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD hat in jüngster Zeit insbesondere der groß angelegte Bertelsmann-Religionsmonitor Daten dazu geliefert, auf die ich im Folgenden Bezug nehme.

       Erstaunlich stabil

      Zunächst ist angesichts mancher Alarmmeldung darauf hinzuweisen, dass angesichts der massiven gesellschaftlichen Veränderungen sowohl die öffentliche Stellung der Kirchen als auch ihre Mitgliedschaftszahlen erstaunlich stabil sind. Das gilt sowohl für Westdeutschland als auch – nur auf aus den bekannten historischen Gründen deutlich niedrigerem Niveau – für Ostdeutschland. Auch wenn der Prozentsatz der Nicht-Religiösen nach den Zahlen des Religionsmonitors in Ostdeutschland mit 65,8 Prozent doppelt so hoch ist wie die Zahl der Religiösen (34,2 Prozent), ist auch dort bei einem Teil der Bevölkerung durchaus mit einer intellektuellen Offenheit für religiöse Themen und mit einem (kleinen) Stamm von Mitgliedern zu rechnen, „deren Religiosität bemerkenswert stabil ist“.

      Für Westdeutschland, wo sich nach Angaben des Religionsmonitors 78 Prozent der Befragten der christlichen Religionsgemeinschaft zuordnen, fällt die Diagnose trotz rückläufigen Gottesdienstbesuchs und Mitgliederrückgang durchaus nicht so negativ aus, wie das zu erwarten wäre. Die Kirchen in Westdeutschland – so der Religionssoziologe Karl Gabriel auf der Basis der Daten des Religionsmonitors – haben, verglichen mit Ostdeutschland, „im gesellschaftlichen Umbruch der letzten 50 Jahre eine erstaunliche Stabilität bewiesen.

      Eine große Mehrheit der Bevölkerung hat an der Mitgliedschaft festgehalten, die Kirchen verantworten Sonntag für Sonntag, besonders aber bei Großereignissen wie Kirchentagen und Papstbesuchen, die öffentlichen Veranstaltungen mit den höchsten Teilnehmerzahlen in der Republik; erkennbaren Einfluss haben sie nach wie vor auf Gesellschaft und Politik, besonders im Bereich sozialer Dienste, Schule, entwicklungspolitischer Verantwortung und Grenzfragen medizinischer Ethik.“ Und Gabriel schließt seine Auswertung mit einer Prognose: „Am wahrscheinlichsten ist die Entwicklung hin zu einem unverkrampfteren Umgang mit einer sich verändernden, in ihrer Existenz aber unangefochtenen religiösen Kultur in einer säkularen Gesellschaft, für die die christlichen Kirchen wichtige, aber keineswegs die einzigen Repräsentanten sind.“

      Lässt sich empirisch in irgendeiner Weise erkennen, was theologisch im Hinblick auf die Rolle der Kirche in der Zivilgesellschaft mit Recht postuliert wird, dass die Kirche nämlich tatsächlich einen erkennbaren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen kann? Der Soziologe Richard Traunmüller hat im Hinblick auf diese Frage jüngst erstmals den größten in Deutschland existierenden Bestand empirischer Daten, den sogenannten „Sozio-ökonomischen Panel“, in seinem Buch „Religion als Ressource sozialen Zusammenhalts?“ ausgewertet und ist dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen.

       Stärker zivilgesellschaftlich engagiert

      Er kann tatsächlich nachweisen, dass sowohl subjektive Religiosität als auch öffentliche religiöse Praxis einen positiven Einfluss auf strukturelle Aspekte der Sozialintegration in Deutschland ausüben. Er stellt dabei zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den religiösen Traditionen fest.

      Während etwa regelmäßiger Gottesdienstbesuch für alle Religionen mit einem größeren Freundschaftsnetzwerk einhergeht und zu häufigerem Treffen mit Freunden und Nachbarn führt, wird die Einbindung in formelle Netzwerke zivilgesellschaftlichen Engagements vornehmlich in christlichen Konfessionen und hier insbesondere im Protestantismus gefördert.

      Religiöse Protestanten – so Traunmüller – sind „in stärkerem Maße zivilgesellschaftlich eingebunden als religiöse Katholiken.“ Evangelische Gemeinden – so fährt er fort – „stellen einen fruchtbareren Nährboden für soziales Engagement und Beteiligung dar als katholische. Dies steht in Einklang mit einem zentralen Argument der Sozialkapitaltheorie, wonach die horizontalere Organisation protestantischer Gemeinden mehr Raum für Engagement zulassen sollte als die hierarchische Organisationsstruktur der katholischen Kirche.“

      Auch wenn sich Protestanten über diese Beobachtung des von konfessionellen Standortdebatten

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